Nacht unter Tag
glaube, es ist an der Zeit, auszupacken, was im April passiert ist.«
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Donnerstag, 26. April 2007,
Villa Totti, Toskana
B is zu den letzten Tagen im Leben seines Vaters hatte Gabriel Porteous nicht verstanden, wie nah er dem Mann stand, der ihn allein aufgezogen hatte.
Über die Bindung zwischen Vater und Sohn hatte er nie viel nachgedacht. Hätte man ihn gefragt, dann hätte er ihre Beziehung wohl eher höflich genannt als leidenschaftlich, besonders wenn er sie mit dem dynamischen Verhältnis verglich, das die meisten seiner Kameraden zu ihren Vätern hatten. Er schrieb es der Tatsache zu, dass Daniel Brite war. Briten waren ja angeblich verklemmt und zurückhaltend, oder? Außerdem kamen alle seine Freunde aus Großfamilien, die vertikal und horizontal durch Raum und Zeit reichten. In einem solchen Umfeld musste man seine Ansprüche anmelden, oder man ging spurlos unter. Aber Gabriel und Daniel hatten nur einander. Sie mussten nicht um Aufmerksamkeit buhlen. Es war also in Ordnung, zurückhaltend zu sein. Jedenfalls sagte er sich das. Es brachte nichts, seine Sehnsucht nach der Art von Familie einzugestehen, die er nie würde haben können. Die Großeltern waren tot, und als einziges Kind von Einzelkindern würde er nie wie seine Kameraden zu einem Clan gehören. Er würde stoisch sein wie sein Vater und akzeptieren, was man sowieso nicht ändern konnte. Im Lauf der Jahre hatte er seinen Wunsch nach anderen Verhältnissen verdrängt, gelernt, sich dem Unabänderlichen zu beugen und sich vor Augen zu halten, dass er für die Vorteile seines Status als Einzelkind ohne Familie dankbar sein sollte.
Als Daniel ihn über seine Krebserkrankung informierte, blockte Gabriel ab. Er konnte den Gedanken, ohne Daniel zu leben, einfach nicht fassen. Die schreckliche Neuigkeit ergab aus seiner Sicht der Welt keinen Sinn, und er führte deshalb sein Leben einfach so weiter, als hätte er sie nie erfahren. Es war nicht nötig, häufiger als sonst nach Haus zu kommen oder jede Gelegenheit zu ergreifen, um Zeit mit Daniel zu verbringen. Er sah keine Notwendigkeit, über eine Zukunft zu sprechen, in der es seinen Vater nicht mehr geben würde. Denn es würde nichts geschehen. Gabriel würde nicht von dem einzigen Familienmitglied verlassen werden, das er hatte.
Aber schließlich war es unmöglich gewesen, eine Realität zu ignorieren, die stärker war als seine Neigung zum Trotz. Als Daniel ihn aus der Poliklinik Le Scotte anrief und mit schwacher, nur noch flüsternder Stimme sagte, er brauche Gabriel, traf ihn die Wahrheit mit der Wucht eines Zentnergewichts. Jene letzten Tage am Bett seines Vaters waren für Gabriel entsetzlich, nicht zuletzt, weil er sich nicht die Zeit genommen hatte, sich darauf vorzubereiten.
Es war zu spät für das Gespräch, das Gabriel sich eigentlich wünschte, aber in einem seiner klaren Momente hatte Daniel ihm gesagt, Matthias hätte einen Brief für ihn. Er konnte nicht andeuten, was der Brief enthielt, nur dass er wichtig sei. Es war typisch für seinen Vater, den Künstler, sich auf Papier mitzuteilen, statt mit ihm direkt zu sprechen, dachte Gabriel. Sein Vater hatte ihm zuvor per E-Mail Anweisungen für sein Begräbnis gegeben. Eine zuvor geplante und schon bezahlte private Trauerfeier in einer kleinen, aber sehr schönen Renaissancekirche in Florenz; nur Gabriel sollte ihm das Geleit zu seinem Grab auf einem gewöhnlichen Friedhof am westlichen Stadtrand geben. Daniel hatte eine MP 3-Datei von Gesualdos
Tenebrae-Responsorien
angehängt, damit sein Sohn sie am Tag seines Begräbnisses auf seinem iPod hören konnte. Gabriel verstand nicht, warum er diese Musik ausgewählt hatte; sein Vater hatte immer Musik gehört, wenn er malte, aber niemals so etwas. Es gab keine Erklärung dafür, warum er dieses Stück ausgesucht hatte. Ein weiteres Rätsel, genau wie der Brief, der bei Matthias hinterlegt war.
Gabriel hatte Matthias nach dem ersten Verebben seines bitteren Schmerzes in der verfallenen Villa bei Siena besuchen wollen. Aber als er vom Friedhof kam, erwartete ihn der Puppenspieler schon. Matthias und seine Partnerin Ursula waren dem, was Onkel und Tante ihm hätten sein können, am nächsten gekommen. Sie waren immer ein Teil seines Lebens gewesen, obwohl sie nie lange genug an einem Ort gewohnt hatten, dass er mit ihm vertraut hätte werden können. Sie waren auch nicht gerade sehr zugänglich für Emotionen. Matthias war zu sehr mit sich selbst und Ursula zu sehr mit Matthias
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