Nacht unter Tag
sich nicht darum kümmern, wenn keine Leiche da ist.«
»Du willst, dass ich dir helfe, ihn zu begraben?« Gabriel klang matt, als sei dieser Schritt zu viel und er könne ihn nicht bewältigen.
»Ihn begraben? Nein. Begrabene Leichen tauchen meistens wieder auf. Wir werden ihn zum Feld runtertragen. Maurizios Schweine fressen alles, was man ihnen gibt.«
Am Morgen wusste Gabriel, dass Rado recht gehabt hatte.
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Donnerstag, 5. Juli 2007,
Celadoria bei Greve im Chianti-Gebiet
W ährend Gabriel sich jetzt an diese Nacht erinnerte, hatte er das Gefühl, dass Bel Richmond seinen Magen mit einem Löffel auskratzte. Seinen Vater zu verlieren war schlimm genug gewesen. Aber Daniels Brief und das, wozu er geführt hatte, war verheerend. Es war, als sei sein Leben wie ein Stück Stoff von oben bis unten zerrissen und als Lumpen auf den Boden geworfen worden. Hatte ihn der Brief schon ins Chaos gestürzt, dann wurde alles dadurch noch unendlich viel schlimmer, dass er Matthias getötet hatte. Sein Vater war nicht der Mann gewesen, für den er ihn gehalten hatte. Seine Lügen hatten so vieles vergiftet. Aber Gabriel selbst war schlimmer als ein Lügner. Er war ein Mörder. Er hatte eine Tat begangen, deren er sich selbst nie für fähig gehalten hätte. Wenn Grundelemente seines Lebens sich als unwirkliche Einbildung entpuppten, wie konnte er da überhaupt noch mit Vertrauen an etwas festhalten?
Er war mit dem Gedanken aufgewachsen, seine Mutter sei Kunsterzieherin gewesen, habe Catherine geheißen und sei bei seiner Geburt gestorben. Solange Gabriel denken konnte, hatte er gegen dieses Schuldgefühl angekämpft. Er hatte die Einsamkeit und Traurigkeit seines Vaters gesehen und auch die Verantwortung dafür auf sich genommen. Er hatte sein ganzes Leben eine Bürde getragen, die erstunken und erlogen war.
Er wusste nicht mehr, wer er war. Seine Herkunft war eine Geschichte, die erfunden worden war, um Daniel und Matthias vor den Folgen der schrecklichen Sache zu schützen, die sie angezettelt hatten. Ihnen zuliebe wurde er aus dem Land verschleppt, in das er gehörte, und war auf fremdem Boden aufgezogen worden. Wer weiß, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er in Schottland statt in Italien aufgewachsen wäre? Er fühlte sich ausgesetzt, entwurzelt und vorsätzlich um sein Geburtsrecht betrogen.
Seine Qualen wurden noch verstärkt durch die ständige Angst, die hinter ihm zu schwanken schien wie die Kulisse einer Puppenspielerbude. Jedes Mal, wenn er ein Auto hörte, sprang er auf und drückte sich an die Wand, denn er war überzeugt, dass diesmal die Carabinieri kamen, um ihn abzuholen, weil Ursula darauf bestanden hatte. Er hatte versucht, seine Spuren zu verwischen, es fehlte ihm jedoch die Erfahrung seines Vaters, und er fürchtete, dass es ihm nicht gelungen war.
Aber die Zeit verstrich, und nach ein paar Wochen, in denen er wie ein krankes Tier eingesperrt lebte, hatte er begonnen, sich wieder zu fangen. Nach und nach fand er eine Möglichkeit, sich von der Schuld zu distanzieren, indem er sich sagte, dass Matthias über zwanzig Jahre frei und unbeschwert gelebt und nie einen Penny der Schuld abgetragen hatte, die durch Catrionas Tod entstanden war. Gabriel hatte ihn nur gezwungen, für das Leben zu büßen, das er ihnen allen – Catriona, Daniel und Gabriel selbst – gestohlen hatte. In moralischer Hinsicht und so, wie Daniel ihn erzogen hatte, war das nicht wirklich zufriedenstellend. Aber indem Gabriel an dieser Überzeugung festhielt, konnte er zumindest versuchen, weiterzukommen, mit seinen Gewissensbissen fertig zu werden und seinen Schmerz anzunehmen.
Vor allem eine Notwendigkeit trieb ihn an. Er wollte die Familie finden, die ihm rechtmäßig zustand, die Sippe, nach der er sich immer gesehnt hatte, den Stamm, zu dem er gehörte. Er wollte das Zuhause haben, das ihm vorenthalten worden war, und in einem Land sein, wo die Leute aussahen wie er und nicht wie Figuren, die aus mittelalterlichen Gemälden entsprungen waren. Aber er hatte gewusst, dass er noch nicht so weit war. Er musste Ordnung in seinen Kopf bringen, bevor er versuchen konnte, es mit Sir Broderick Maclennan Grant aufzunehmen. Das wenige, was er aus dem Brief seines Vaters, durch Matthias und durch das Internet hatte herausfinden können, hatte ihn überzeugt, dass Grant es einem Bittsteller nicht leichtmachen würde. Gabriel wusste, dass er imstande sein musste, sich zu behaupten und seine Geschichte klar zu schildern, falls jene
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