Nacht unter Tag
Lippenstifts, eine Ledersandale, deren Sohle sich gelöst hatte. Sachen, die man zurücklassen würde, wenn man auszog, ohne an einen Nachmieter denken zu müssen. In einem Zimmer stand in einem Olivenglas ein getrockneter, verdorrter Blumenstrauß.
Der letzte Raum auf der Westseite war der größte von allen. Die Fenster waren vor deutlich kürzerer Zeit als die anderen geputzt, die Fensterläden ausgebessert und die Wände getüncht worden. Mittendrin stand ein Siebdruckrahmen auf dem Boden. Auf Tapeziertischen an einer Wand fanden sich Plastikbecher mit getrockneten Farbresten und Pinseln, die liegengelassen und steif geworden waren. Der Boden war bedeckt mit einer Reihe von Spritzern und Klecksen. Bel war fasziniert, und ihre Neugier verdrängte die Nervosität, an einem so seltsamen Ort allein zu sein. Wer immer hier gewohnt hatte, musste in aller Eile fortgegangen sein. Einen guten Siebdruckrahmen würde man bei einem geplanten Auszug nicht zurücklassen.
Sie ging rückwärts aus dem Studio hinaus und über die Loggia zum gegenüberliegenden Flügel. Vorsichtig hielt sie sich dicht an der Wand, da sie nicht sicher war, ob der unebene Backsteinboden ihr Gewicht tragen würde. Sie kam wieder an den Schlafzimmern vorbei und fühlte sich wie ein Eindringling auf der
Mary Celeste
. Die Stille, die nicht einmal von Vogelstimmen unterbrochen wurde, verstärkte diesen Eindruck noch. Der letzte Raum vor der Ecke war ein Bad, dessen ekelerregender Gestank in der Luft hing. Auf dem Boden lag ein aufgerollter Gartenschlauch, dessen Ende durch ein Loch im Mauerwerk neben dem Fenster verschwand. Sie hatten also eine Art Wasserleitung improvisiert, die allerdings nicht hatte verhindern können, dass die Toilette absolut widerlich roch. Bel rümpfte die Nase und wich zurück.
Gerade als sie um die Ecke bog, kam die Sonne hinter dem Waldrand hervor und hüllte sie unverzüglich in Wärme. Dadurch kam ihr der letzte Raum beim Betreten umso kälter vor. In der feuchten Luft zitternd, wagte sie sich hinein. Die Läden waren fest zugezogen und machten das Innere des Raums fast zu dunkel, um irgendetwas unterscheiden zu können. Aber als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, konnte sie sich orientieren. Der Raum hatte den gleichen Schnitt wie das Studio, war aber ganz anders genutzt worden. Sie ging zum nächsten Fenster hinüber und mühte sich mit dem Fensterladen ab, schließlich schaffte sie es, ihn halb aufzuziehen. Das genügte, um ihren ersten Eindruck zu bestätigen. Dies war das Herz der in Beschlag genommenen
casa rovina
. Ein ramponierter alter Herd war an einen Gaszylinder angeschlossen, der neben einer Steinspüle stand. Der Esstisch war verkratzt und bis auf das rohe Holz abgeschabt, aber er war stabil und hatte schön geschnitzte Beine. Sieben nicht zusammenpassende Stühle standen um ihn herum, und ein achter lag umgeworfen nicht weit entfernt. Ein Schaukelstuhl und zwei Sofas waren an den Wänden aufgereiht. Geschirr und Bestecke lagen hier und da verstreut, als wäre es den Bewohnern zu viel Aufwand gewesen, sie einzusammeln, als sie weggingen.
Als Bel vom Fenster zurücktrat, fiel ihr Blick auf einen wackeligen Tisch. Er stand hinter der Tür und war leicht zu übersehen. Darauf lag ein unordentlicher Stapel, offenbar Poster. Fasziniert ging sie darauf zu. Nach zwei Schritten blieb sie plötzlich stehen, und der scharfe Laut, den sie ausstieß, hallte in der staubigen Luft wider.
Auf den Kalksteinplatten vor ihr war ein unregelmäßiger Fleck, etwa einen Meter auf einen halben groß. Er war rotbraun mit runden, glatten Rändern, so als sei die Flüssigkeit ausgelaufen und hätte sich gesammelt, sie war nicht verschüttet worden. An der hintersten Ecke sah eine Stelle verschmiert und etwas abgekratzt aus, als hätte jemand versucht, den Fleck zu entfernen, es aber bald aufgegeben. Bel hatte über ausreichend Fälle von häuslicher Gewalt und Sexualmord berichtet, um erkennen zu können, wenn sie es mit einem ernstzunehmenden Blutfleck zu tun hatte.
Erschrocken wich sie zurück und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, ihr Herz klopfte so heftig, dass sie zu ersticken glaubte. Was war hier bloß geschehen? Sie sah sich aufgeregt um und bemerkte auf der anderen Seite des Tisches noch mehr dunkle Flecken auf dem Boden. Es war Zeit, von hier zu verschwinden, sagte der vernünftige Teil ihres Verstandes. Aber die teuflische Neugier hielt dagegen und murmelte ihr ins Ohr:
Hier ist seit Monaten niemand
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