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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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gewesen. Sieh doch mal den Staub. Sie sind schon lange weg. Sie werden nicht so bald wiederkommen. Was immer hier geschehen ist, war ein guter Grund für alle, sich davonzumachen. Sieh dir die Poster an …
    Bel ging um den Fleck herum und hielt so viel Abstand von ihm, wie sie konnte, ohne die Möbel zu berühren. Ganz plötzlich nahm sie einen leichten Geruch wahr. Sie wusste, dass sie sich das nur einbildete, aber es schien trotzdem real zu sein.
    Mit dem Rücken zum Raum und dem Gesicht zur Tür gewandt, bewegte sie sich seitlich auf den Tisch zu und sah auf die Poster hinunter, die darauf verstreut lagen.
    Der zweite Schock war fast noch stärker als der erste.
     
    Bel war sich bewusst, dass es bergauf ging und sie sich zu sehr anstrengte, konnte aber das richtige Tempo nicht finden. Sie spürte den Schweiß von ihrer Hand auf das hochwertige Papier des zusammengerollten Posters rinnen. Endlich wand sich der Pfad zwischen den Bäumen heraus und wurde auf dem letzten Stück zu ihrer Ferienvilla weniger tückisch. Die Neigung des Weges war fast unmerklich, aber dies genügte, um ihren müden Beinen einen Kraftschub zu versetzen, und sie rannte immer noch schnell, als sie um die Ecke des Hauses bog, hinter der Lisa Martyn auf der schattigen Terrasse mit dem
Guardian
vom Freitag auf einem Liegestuhl ausgestreckt lag. Bel war erleichtert. Sie musste mit jemandem reden, und bei Lisa konnte sie sich von all ihren Freundinnen am sichersten sein, dass sie nicht bei der nächsten Dinnerparty ihre Enthüllungen ausplauderte. Lisa war Menschenrechtsanwältin, und Mitgefühl und Feminismus schienen bei ihr ebenso unvermeidlich zu sein wie jeder Atemzug, den sie tat. Sie würde verstehen, welches Potenzial hinter der Entdeckung steckte, die Bel gemacht zu haben glaubte. Und Lisa würde auch verstehen, dass Bel das Recht hatte, damit umzugehen, wie sie es für angebracht hielt.
    Lisa hob den Blick von der Zeitung, aufmerksam geworden durch Bels ungewohntes Schnaufen und Keuchen. »Mein Gott«, sagte sie, »du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«
    Bel legte das Poster auf einen Stuhl, beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, vor, atmete tief ein und bedauerte alle heimlich gerauchten Zigaretten. »Ich bin – gleich – wieder fit – eine Minute.«
    Lisa stemmte sich mühsam aus dem Stuhl hoch, eilte in die Küche und kam mit einem Handtuch und einer Flasche Wasser zurück.
    Bel richtete sich auf, nahm das Wasser, goss sich die Hälfte über den Kopf und schnaubte, als sie versehentlich etwas davon einatmete. Dann rubbelte sie sich den Kopf mit dem Handtuch ab und ließ sich in einen Stuhl plumpsen. Sie nahm einen großen Schluck Wasser, während Lisa zu ihrem Liegestuhl zurückkehrte. »Was war das denn?«, fragte Lisa. »Du bist die gelassenste Joggerin, die ich kenne. Nie hab ich dich so außer Atem gesehen. Was hat dich denn in diesen Zustand versetzt?«
    »Ich hab etwas gefunden«, berichtete Bel. Ihre Brust kämpfte noch mit der Atemnot, aber sie schaffte es, ein paar kurze Worte hervorzustoßen. »Zumindest glaube ich, etwas gefunden zu haben. Und wenn ich recht habe, ist es
die
Story meiner Karriere.« Sie griff nach dem Poster. »Ich hoffe, du kannst mir sagen, ob ich komplett durchgeknallt bin.«
    Fasziniert warf Lisa die Zeitung auf den Boden und setzte sich auf. »Also, worum geht es bei der Sache, an der etwas dran sein könnte?«
    Bel rollte das dicke Papier auseinander und beschwerte es mit einer Pfeffermühle, einem Kaffeebecher und zwei schmutzigen Aschenbechern. Das Bild auf dem Blatt im DIN -A3-Format war erstaunlich. Es wirkte wie ein grobschlächtiger Schwarzweißholzschnitt im Stil des deutschen Expressionismus. Oben beugte sich ein bärtiger Mann mit kantig dargestelltem Haarschopf über einen Wandschirm; seine Hände hielten hölzerne Kreuze, von denen drei Marionetten baumelten. Aber es waren keine gewöhnlichen Marionetten. Eine war ein Skelett, die zweite eine Ziege und die dritte eine Darstellung des Todes mit Kapuzengewand und Sense. Das Bild hatte etwas eindeutig Finsteres an sich. Unten war ein freier, ungefähr acht Zentimeter hoher Streifen, von einem schwarzen Rand eingerahmt wie eine Trauerkarte. Auf der ausgesparten Fläche hätte man einen kleinen Aufkleber als Ankündigung einer Aufführung befestigen können.
    »Um Gottes willen«, entfuhr es Lisa. Endlich sah sie auf. »Catriona Maclennan Grant.« Sie klang verblüfft. »Bel … wo zum Teufel hast du das

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