Nacht unter Tag
sich einen Weg über den zerfallenden Hof und kam an herumliegenden zerbrochenen Terrakotta-Kübeln vorbei, deren wuchernde Kräuter die Luft mit ihrem würzigen Aroma erfüllten. Sie drückte gegen eine schwere Tür aus Holzbohlen, die nur noch an einem einzelnen Scharnier hing. Das Holz kratzte über dem unebenen, im Fischgrätmuster verlegten Backsteinboden, ging aber so weit auf, dass Bel, ohne sich durchquetschen zu müssen, einen großen Raum betreten konnte.
Als Erstes fielen ihr der Dreck und die Verwahrlosung auf. Ein Gewirr von Spinnweben spannte sich von Wand zu Wand. Die Fenster waren schmutzverschmiert. Ein trippelndes Geräusch von irgendwoher ließ Bel in Panik herumfahren. Sie hatte keine Angst vor Redakteuren, aber Ratten erfüllten sie mit Abscheu.
Als Bel sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah sie, dass der Raum nicht ganz leer war. An einer Wand stand ein langer Tisch. Gegenüber ein durchgesessenes Sofa. Ausgehend vom Rest des Hauses, hätte es eigentlich kaputt und verdreckt sein müssen, aber der dunkelrote Polsterbezug war relativ sauber. Sie merkte sich diese Seltsamkeit, um später weiter darüber nachzudenken.
Bel zögerte einen Augenblick. Sicher würde keine ihrer Freundinnen sie drängen, weiter in dieses fremde, verlassene Haus einzudringen. Aber sie hatte ihre Karriere auf dem Ruf ihrer Furchtlosigkeit aufgebaut. Nur sie selbst wusste, wie oft sich unter diesem Image Angst und Unsicherheit verborgen und sie gezwungen hatten, sich in Rinnsteine und fremde Toiletten zu übergeben. Verglichen mit den Dingen, die sie entschlossen auf sich genommen hatte, um an eine Story zu kommen, konnte da ein verlassenes baufälliges Haus so beängstigend sein?
Hinten in der Ecke führte ein Durchgang in einen engen Flur und zu einem schäbigen steinernen Treppenhaus, über das man zur Loggia hinaufgelangte. Dahinter sah sie ein weiteres dunkles, verschmutztes Zimmer. Sie schaute hinein und war überrascht, eine dünne, übereck gespannte Leine zu sehen, an der ein halbes Dutzend Drahtkleiderbügel baumelten. Ein gestrickter Schal war um einen der Bügel geschlungen. Darunter sah sie einen zerknitterten Stoffhaufen mit Tarnmuster. Das sah wie eine dieser Jacken für die Jagd aus, die von einem Lieferwagen herab in der Parkbucht gegenüber dem Café in der Hauptstraße von Colle Val d’Elsa verkauft wurden. Die Frauen hatten neulich gerade darüber gelacht und sich gefragt, wann es für italienische Männer aller Altersgruppen Mode geworden sei, so auszusehen, als kämen sie gerade von einem Einsatz im Balkan.
Komisch,
dachte sie. Bel stieg vorsichtig die Treppe zur Loggia hinauf und erwartete, auch hier das Gefühl zu haben, dass die Räume schon lange leer standen.
Aber gleich als sie aus dem Treppenhaus trat, merkte sie, dass sie hier etwas ganz anderes vor sich hatte. Als sie sich nach links wandte und einen Blick durch die erste Tür warf, begriff sie, dass dieses Haus nicht das war, was es zu sein schien. Von dem modrigen, muffigen Geruch im Untergeschoss war hier nur eine leichte Andeutung übrig, und die Luft war fast so frisch wie draußen im Freien. Der Raum war offensichtlich noch vor ziemlich kurzer Zeit als Schlafzimmer genutzt worden. Eine Matratze lag auf dem Boden, eine Tagesdecke war lässig über das Fußende geworfen. Es war hier staubig, aber nicht so derart verdreckt, wie Bel es nach dem unteren Geschoss erwartet hatte. Wieder war eine Leine mit einem Dutzend leerer Bügel in einer Ecke gespannt. Aber an den letzten drei hingen leicht zerknitterte Hemden. Selbst von weiter weg konnte sie erkennen, dass diese schon bessere Zeiten gesehen hatten und die Falten an Ärmeln und Krägen verschossen waren.
Zwei Tomatenkisten dienten als Nachttische. Auf einem stand eine Untertasse mit einem Kerzenstummel. Eine vergilbte Ausgabe der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
lag auf dem Boden neben dem Bett. Bel hob sie auf und stellte fest, dass das Datum weniger als vier Monate zurücklag. Das gab ihr einen Anhaltspunkt, wann das Haus verlassen worden war. Sie hob den Ärmel eines Hemdes hoch und führte ihn an die Nase. Rosmarin und Marihuana. Schwach, aber unverkennbar.
Bel ging auf die Loggia zurück und betrachtete die anderen Zimmer. Alle waren nach dem gleichen Muster eingerichtet. Drei weitere Schlafzimmer enthielten ein paar zurückgelassene Sachen, zwei T-Shirts, Taschenbücher und Zeitschriften auf Englisch, Italienisch und Deutsch, eine halbe Flasche Wein, den Rest eines
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