Nacht unter Tag
köstlichen
melanzane alla parmigiana,
die auf der Zunge zergingen und sie zu einer viel zu großen zweiten Portion verführt hatten, noch wie ein fester runder Ball an. Sie beschloss, etwas weiter zu laufen als sonst. Statt um das Sonnenblumenfeld herum- und dann wieder zur Villa hochzujoggen, würde sie einen Weg durch die überwucherten Anlagen der Ruine der
casa colonica
nehmen, die sie vom Auto aus bemerkt hatte. Seit sie an ihrem ersten Morgen das Bauernhaus entdeckt hatte, träumte sie davon, diese Ruine zu kaufen und daraus ihren ultimativen toskanischen Ruhesitz inklusive Pool und Olivenhain zu machen. Und natürlich mit Grazia ganz in der Nähe zum Kochen. Bel hatte wenige Gewissensbisse, wenn es um das Abwerben von Arbeitskräften ging, weder in der Vorstellung noch in der Realität.
Aber sie kannte sich selbst gut genug, um zu begreifen, dass dies nie mehr als ein Hirngespinst bleiben würde. Einen Ruhesitz zu haben verlangte den festen Willen, sich von der Arbeitswelt zurückzuziehen, und das war ihr fremd. Vielleicht könnte sie sich vorstellen, sich einem solchen Renovierungsprojekt zu widmen, wenn sie vorhatte, in den Ruhestand zu treten. Allerdings erkannte sie auch das als einen Tagtraum, denn Journalisten gingen nie wirklich in Rente. Es tauchten immer wieder eine neue Geschichte und ein weiteres Ziel am Horizont auf. Gar nicht zu reden von der Angst davor, dass man in Vergessenheit geraten könnte. Alles Gründe, weshalb Beziehungen in der Vergangenheit nicht gehalten hatten und weshalb die Zukunft wahrscheinlich ähnlich unvollkommen sein würde. Aber trotzdem würde es Spaß machen, das alte Haus genauer zu betrachten, um zu sehen, wie schlecht sein Zustand wirklich war. Als sie das Grazia gegenüber erwähnt hatte, hatte diese das Gesicht verzogen und das Haus
rovina
genannt. Bel, die fließend Italienisch sprach, übersetzte es für die anderen: Ruine. Es war an der Zeit, herauszufinden, ob Grazia die Wahrheit sagte oder nur das Interesse der reichen englischen Damen abzulenken versuchte.
Der Weg durch das hohe Gras war überraschend gut gangbar, da die Erde in den vielen Jahren festgetreten worden war. Bel nutzte die Gelegenheit, schneller zu joggen, und erreichte das Tor zum Hof vor dem alten Bauernhaus. Die wuchtigen Türen waren verrottet und hingen schief in den Scharnieren, die nur noch lose an den hohen Steinpfosten befestigt waren. Eine schwere Kette und ein Vorhängeschloss hielten sie zusammen. Dahinter lag das schadhafte Pflaster des Hofs, mit Büscheln von kriechendem Thymian, Kamille und großblättrigem Unkraut umsäumt. Ohne viel zu erwarten, rüttelte Bel an den Toren. Aber das genügte schon; sie sah, dass die untere Ecke des rechten Torflügels sich ganz vom Pfosten gelöst hatte. Man konnte ihn einfach so weit vorziehen, dass ein Erwachsener durch den Spalt passte. Bel schlüpfte hindurch und ließ dann los. Das Tor quietschte leise, als es an seinen Platz zurückschwang und wieder wie geschlossen aussah.
Als sie das Haus aus der Nähe sah, konnte sie Grazias Beschreibung nachvollziehen. Jeder, der dieses Projekt in Angriff nahm, würde lange Zeit unter der Fuchtel der Handwerker leben müssen. Das Haus umschloss den Hof auf drei Seiten, der Mittelteil wurde von zwei Flügeln flankiert. Um das obere der zwei Stockwerke lief rundum eine Loggia, auf die Türen und Fenster hinausgingen und die den Schlafräumen frische Luft und gemeinsam nutzbare Fläche bot. Aber der Boden der Loggia hing durch, die noch vorhandenen Türen waren verzogen und die Fensterstürze rissig und seltsam krumm. Die Fensterscheiben in beiden Stockwerken waren schmutzig, hatten Sprünge oder fehlten ganz. Aber trotzdem waren die klaren Linien der attraktiven alten Architektur noch deutlich zu erkennen, und die rauhen Steine glühten in der warmen Morgensonne.
Bel hätte nicht erklären können, warum, aber sie fühlte sich zu dem Haus hingezogen. Es hatte den Charme einer einstigen Schönheit, die so selbstbewusst war, dass sie sich widerstandslos gehenlassen konnte. Bougainvilleen, die lange nicht mehr geschnitten worden waren, wuchsen an der abblätternden, ockerfarben verputzten Mauer hoch und über die niedrige Wand der Loggia hinauf. Wenn sich nicht bald jemand in dieses Haus verliebte, würde es vom Pflanzengrün überwuchert werden. Zwei Generationen später würde es nur noch eine rätselhafte Aufschüttung auf der Bergflanke sein. Doch noch hatte es die Macht, einen zu bezaubern.
Bel suchte
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