Nacht unter Tag
Einer ihrer Leute soll mich am Haus der Familie treffen. Setz dich mit dem Schulleiter in Verbindung. Ich will wissen, wer ihre Freunde sind, welche Lehrer sie hatte, und wir vereinbaren mit ihnen Termine für Befragungen gleich morgen früh. Wer immer den Bericht nach Eingang der Meldung geschrieben hat, soll mich per E-Mail über die Einzelheiten unterrichten. Ruf die Pressestelle an und informiere sie. Wir setzen uns morgen früh mit den Journalisten zusammen, zehn Uhr. Okay? Hab ich noch was vergessen?«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich drum. Ich kann einen von der Verkehrspolizei bitten, mich mit zurück zu nehmen. Wirst du persönlich bei der Familie vorbeischauen?«
Patterson seufzte. »Ich freu mich nicht drauf. Aber sie haben ihre Tochter verloren. Sie haben es verdient, dass ein ranghöherer Beamter dabei ist. Ich seh dich dann auf dem Revier.«
Ambrose stieg aus und ging auf die Polizeiwagen zu, die vor der Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes standen. Sein Chef schaute ihm nach. Nichts schien Ambrose aus der Ruhe zu bringen. Er nahm die Last auf seine breiten Schultern und stapfte weiter, egal was ihr Fall ihnen brachte. Was immer der Preis für diese offenbare Seelenruhe sein mochte, Patterson hätte ihn heute Abend bereitwillig gezahlt.
2
C arol sah, dass John Brandon in Fahrt kam. Sein trauriges Hundegesicht wirkte angeregter, als sie es jemals während der Arbeitszeit gesehen hatte, und an seiner Seite war seine geliebte Maggie mit ihrem milden Lächeln, das Carol oft am Esstisch der Familie beobachtet hatte, wenn Brandon sich in ein Thema verbissen hatte wie ein Terrier in ein Kaninchen. Sie tauschte ihr leeres Glas gegen ein volles von einem Tablett, das vorbeigetragen wurde, und kehrte wieder zu der Ecke zurück, in der sie Tony zurückgelassen hatte. Sein Gesichtsausdruck hätte besser zu einer Beerdigung gepasst, allerdings konnte sie kaum behaupten, dass sie etwas anderes erwartet hatte. Sie wusste, dass er solche Veranstaltungen als reine Zeitverschwendung betrachtete, und schätzte, dass es für ihn auch wirklich so war. Aber ihr war klar, dass eine solche Feier für sie selbst eine ganz andere Bedeutung hatte.
Das Wesentliche bei moderner Polizeiarbeit war nicht, dass man Kriminelle schnappte. Vielmehr ging es um Politik und Beziehungen, genau wie in jeder großen Behörde. Früher einmal wäre ein Abend wie der heutige ein Vorwand gewesen für ein hemmungsloses allgemeines Besäufnis inklusive Stripperinnen. Heutzutage ging es dagegen um Kontakte, Verbindungen und Gespräche, die man im Büro nicht führen konnte. Sie mochte diese Dinge auch nicht mehr als Tony, hatte aber ein gewisses Talent dafür. Wenn dies nötig war, um ihr ihren Platz in der inoffiziellen Hierarchie zu sichern, würde sie es mit Fassung tragen.
Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie innehalten und sich umdrehen. Detective Constable Paula McIntyre von ihrer Gruppe flüsterte ihr ins Ohr: »Er ist gerade eingetroffen.«
Carol brauchte nicht zu fragen, wer »er« war. John Brandons Nachfolger war dem Namen und seinem Ruf nach bekannt, aber weil er aus einem ganz anderen Landesteil kam, hatte in Bradfield niemand viel Information aus erster Hand über ihn. Nicht viele Polizeibeamte ließen sich von Devon & Cornwall nach Bradfield versetzen. Warum sollte man ein relativ beschauliches Leben in einer hübschen Touristengegend eintauschen gegen die aufreibende Arbeit der Polizei in einer postindustriellen Stadt im Norden mit einer Kriminalitätsrate (inklusive Schusswaffen und Messerstechereien), die einem die Tränen in die Augen trieb? Es sei denn, man war ehrgeizig und hielt es für karrierefördernd, den viertgrößten Polizeibezirk des Landes zu leiten.
Carol konnte sich vorstellen, dass das Wort »Herausforderung« mehr als einmal in James Blakes Vorstellungsgespräch gefallen war, bevor er zum Chief Constable, zum Polizeipräsidenten, ernannt wurde. Sie ließ den Blick schweifen. »Wo denn?«
Paula sah ihr über die Schulter. »Er hat gerade eben dem stellvertretenden Leiter der Dezernats Schwerverbrechen etwas vorgeschwafelt, aber jetzt ist er weitergezogen. Tut mir leid, Chefin.«
»Macht nichts. Danke für den Tipp.« Carol hob ihr Glas, prostete ihr zu und drängte sich dann weiter in Richtung Tony. Bis sie sich durch die Menge gearbeitet hatte, war ihr Glas schon wieder leer. »Ich brauche noch ein Glas Wein«, sagte sie und lehnte sich neben ihm gegen die Wand.
»Das ist schon dein viertes«,
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