Nacht unter Tag
stellte er fest, aber nicht in unfreundlichem Ton.
»Wer zählt da schon mit?«
»Ich, offensichtlich.«
»Du bist mein Freund, nicht mein Psychiater.« Carols Tonfall war eisig.
»Eben deshalb sage ich dir ja, dass du vielleicht zu viel trinkst. Als dein Therapeut wäre ich kaum so kritisch. Ich würde es dir überlassen.«
»Hör mal zu, Tony. Mir geht’s gut. In der Zeit nach … Ich gebe zu, dass es mal eine Zeit gab, als ich zu viel getrunken habe. Aber ich habe es wieder unter Kontrolle. Alles klar?«
Tony breitete beschwichtigend die Hände aus. »Es ist deine Sache.«
Carol seufzte tief und stellte ihr leeres Glas neben seines auf den Tisch. Er konnte einen zum Wahnsinn treiben, wenn er so vernünftig war. Aber sie war schließlich nicht die Einzige, die es nicht mochte, wenn man ihre Macken ans Tageslicht zog
. Soll er doch mal sehen, wie ihm das gefällt
. Sie lächelte liebenswürdig. »Sollen wir mal rausgehen, ein bisschen Luft schöpfen?«
Er lächelte etwas ratlos. »Okay, wenn du willst.«
»Ich habe ein paar Sachen über deinen Vater herausgefunden. Gehen wir doch irgendwohin, wo wir richtig reden können.« Sie beobachtete, wie sein Lächeln verschwand und er reumütig das Gesicht verzog. Wer Tonys Vater war, hatte sich erst nach dessen Tod herausgestellt, weil er beschlossen hatte, dem Sohn, den er nie gekannt hatte, sein Anwesen zu hinterlassen. Carol wusste ganz genau, dass Tony in Bezug auf Edmund Arthur Blythe bestenfalls zwiespältige Gefühle hatte. Er mochte es genauso wenig, über seinen erst kürzlich entdeckten Vater zu sprechen, wie sie selbst Lust zu Diskussionen über ihre angebliche Alkoholabhängigkeit hatte.
»Ein Punkt für dich. Ich geh und hol dir noch einen Wein.« Als er die Gläser brachte, stand ihm plötzlich ein Mann im Weg, der sich aus der Menge gelöst und sich groß und breit vor ihnen aufgebaut hatte.
Carol schätzte ihn mit routinemäßigem Blick ein. Sie hatte vor Jahren bereits die Gewohnheit angenommen, sich gedanklich die Merkmale von Menschen einzuprägen, die ihr begegneten, und ein Bild aus Worten zusammenzusetzen, als sei es für ein Fahndungsplakat oder einen Polizeizeichner gedacht.
Dieser Mann war für einen Polizeibeamten klein und stämmig, aber nicht dick. Er war sauber rasiert, die weiße Scheitellinie auf einer Seite des Kopfes teilte das hellbraune Haar. Seine Haut war gerötet und hell wie bei einem Liebhaber der Fuchsjagd auf dem Land; die braunen Augen lagen in einem feinen Netz von Fältchen, was auf ein Alter Ende vierzig oder Anfang fünfzig deutete. Eine kleine Knollennase, volle Lippen und ein Kinn wie ein Pingpongball. Er trat mit einer Autorität auf, die an einem alten Tory-Granden nicht unpassend gewesen wäre.
Sie war sich durchaus bewusst, dass ihr die gleiche intensive Begutachtung zuteil wurde. »Detective Chief Inspector Jordan«, sprach er sie an. Ein voller Bariton mit einem leichten Anklang an den Dialekt des Südwestens. »Ich bin James Blake, Ihr neuer Chief Constable.« Er streckte Carol die Hand hin. Sie war warm, breit und trocken wie Papier.
Genau wie sein Lächeln.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Carol. Blakes Augen ließen ihr Gesicht nicht los, und sie musste den Blick abwenden, um Tony vorzustellen. »Das ist Dr.Tony Hill. Er arbeitet hin und wieder mit uns.«
Blake warf einen Blick auf Tony und senkte das Kinn zu einem flüchtigen Gruß. »Ich wollte die Gelegenheit ergreifen, das Eis zu brechen. Ich bin sehr beeindruckt von dem, was ich über Ihre Arbeit gehört habe. Aber ich werde einiges hier ändern, und der Zuständigkeitsbereich in Ihrer Obhut hat für mich Priorität. Ich würde Sie gerne morgen früh um halb elf in meinem Büro sehen.«
»Aber natürlich«, sagte Carol. »Ich freue mich darauf.«
»Gut. Dann ist das klar. Bis morgen, Chief Inspector.« Er wandte sich ab und drängte sich zurück durch die Menschenmenge.
»Das ist ja außergewöhnlich«, sagte Tony. Das hätte alles Mögliche heißen können, alle Varianten wären gleichermaßen gültig gewesen. Und nicht alle beleidigend.
»Hat er wirklich ›in Ihrer Obhut‹ gesagt?«
»Obhut«, wiederholte Tony schwach.
»Das Glas Wein – jetzt brauche ich es wirklich. Gehen wir. Ich habe eine sehr gute Flasche Sancerre im Kühlschrank.«
Tony starrte Blake hinterher. »Kennst du dieses Klischee, dass man Angst hat, große Angst? Ich glaube, das wäre jetzt ein guter Moment, es wieder mal anzubringen.«
Shami
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