Nacht unter Tag
Mick wissen, wer ich bin, wenn ich nicht einmal mehr weiß, wer er ist?«
»Was meinst du damit, dass du nicht mehr weißt, wer Mick ist? Ihr beide seid doch schon seit zwanzig Jahren die besten Freunde. Ich glaube kaum, dass der Streik einen von euch so sehr verändert hat.«
»Das würde man denken, oder?« Andy starrte mit stumpfem Blick und hängenden Schultern ins Feuer. »Unter den Männern in unserer Gegend hier spricht man nicht über seine Gefühle. Wir leben in einer Atmosphäre von Kameradschaft, Treue und gegenseitiger Abhängigkeit, reden jedoch nie über das, was in uns vorgeht. Aber ich und Mick waren nicht so. Wir haben uns alles erzählt. Es gab nichts, worüber wir nicht sprechen konnten.« Er strich sich das feuchte Haar aus der hohen, schmalen Stirn. »Aber in letzter Zeit hat sich etwas verändert. Ich habe das Gefühl, dass er etwas verschweigt. Als gäbe es etwas wirklich Wichtiges, aber er bringt es einfach nicht fertig, darüber zu sprechen.«
»Aber das könnte doch alles Mögliche sein«, meinte Angie. »Vielleicht etwas zwischen ihm und Jenny. Etwas, worüber mit dir zu sprechen nicht richtig wäre.«
Andy schnaubte. »Meinst du, er redet nicht über Jenny? Ich weiß alles über diese Ehe. Ich könnte dir eine Landkarte mit allen Spannungslinien zwischen diesem Paar zeichnen. Nein, es ist nicht Jenny. Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass er mit den anderen übereinstimmt. Dass ich im Moment weder von Nutzen noch eine Zierde für sie bin.«
»Bist du sicher, dass du dir das nicht einbildest? Es klingt nicht nach Mick.«
»Ich wünschte, es wäre so. Aber ich bilde es mir nicht ein. Sogar meine besten Freunde meinen, dass man mir nicht mehr trauen kann. Ich weiß einfach nicht, wie lange ich meine Arbeit noch machen kann, wenn ich mich so fühle.«
Jetzt begann Angie, sich wirklich Sorgen zu machen. Andys Verzweiflung ging offenbar weit über alles hinaus, womit sie fertig werden konnte. »Andy, versteh mich nicht falsch, aber du musst zum Arzt gehen.«
Er gab ein Geräusch von sich wie ein Lachen, das im Entstehen schon unterdrückt wurde. »Was? Aspirin und Paracetamol, die beiden Mittelchen gegen Schmerzen? Meinst du, bei mir ist ’ne Schraube locker? Meinst du, die beiden würden mir helfen, wenn es so wäre? Du glaubst, ich brauche Temazepam wie die Hälfte der Frauen hier? Glückspillen, damit einem alles egal ist?«
»Ich will dir doch helfen, Andy. Aber ich habe nicht die Möglichkeiten dafür. Du musst mit jemandem reden, der sich auskennt, und der Arzt ist die richtige erste Anlaufstelle. Sogar Aspirin und Paracetamol wissen mehr über Depressionen als ich. Ich glaube, du bist sehr bedrückt, Andy. Du hast eine richtige Depression, du fühlst dich nicht nur elend.«
Er sah aus, als finge er gleich an zu weinen. »Weißt du, was das Schlimmste von dem ist, was du gerade gesagt hast? Ich glaube, du hast vielleicht recht.«
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Donnerstag, 28. Juni 2007,
Kirkcaldy
E s klang plausibel. Andy Kerr hatte gespürt, dass Mick Prentice ihm etwas verschwieg. Als es dann so aussah, als habe Mick sich den Streikbrechern angeschlossen und sei nach Nottingham gegangen, hätte das ausreichen können, einem Menschen in einem labilen Zustand den Rest zu geben. Allerdings schien es, als sei Mick Prentice gar nicht nach Nottingham gegangen. Die Frage war, dachte Karen, ob Andy Kerr wusste, was wirklich mit seinem besten Freund passiert war. Und ob er etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte. »Und Sie haben nach diesem Sonntag nie wieder mit Andy gesprochen?«, fragte sie.
»Nein. Ich habe zweimal versucht ihn anzurufen, aber nur den Anrufbeantworter erreicht. Und ich hatte da, wo ich wohnte, kein Telefon, so dass er mich nicht zurückrufen konnte. Mum sagte mir, der Arzt hätte ihn wegen Depressionen krankgeschrieben, aber das war alles, was ich wusste.«
»Glauben Sie, es ist möglich, dass er und Mick zusammen irgendwohin gegangen sind?«
»Was? Sie meinen, sie hätten einfach allem den Rücken gekehrt und sich wie Butch Cassidy und Sundance Kid davongemacht, dem Sonnenuntergang entgegen?«
Karen fuhr leicht zurück. »Nicht ganz so. Eher, weil beide genug hatten und keinen anderen Ausweg sahen. Keine Frage, dass Andy Probleme hatte. Und Sie deuteten an, dass Mick und Jenny nicht allzu gut miteinander auskamen. Vielleicht haben sie sich einfach für eine klare Trennung entschieden?«
Sie hörte Angie auf der anderen Seite der Welt flüstern: »Andy hätte uns
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