Nacht unter Tag
Es kommt einfach eins zum anderen, und ich halte es nicht mehr aus. Deswegen bin ich weggegangen und will versuchen, Ordnung in meinen Kopf zu bringen. Andy.
Es war nicht wirklich der Abschiedsbrief eines Selbstmörders, aber wenn man in der Nähe einer solchen Nachricht eine Leiche fände, würde man kein Mordopfer erwarten. Und die Schwester hatte gesagt, Andy sei gern in den Bergen gewandert. Sie hatte Verständnis dafür, dass der uniformierte Polizist, der das Häuschen und das Waldstück in der Umgebung durchsucht hatte, keine weiteren Maßnahmen ergriffen hatte, außer die Information an andere Polizeidienststellen in Schottland weiterzuleiten. Auf einem Zettel in der Akte stand in einer anderen Handschrift, Angie Kerr hätte 1992 den Antrag gestellt, ihren Bruder für tot erklären zu lassen, und dem Antrag sei stattgegeben worden.
Die letzte Seite war in Phils vertrauter Handschrift. »Das Elternpaar Kerr starb 1987 bei dem Fährunglück bei Zeebrügge. Angie konnte einen Anspruch auf ihren Besitz nicht geltend machen, ohne Andy für tot erklären zu lassen. Als sie endlich 1993 den Erbschein bekam, verkaufte sie alles und emigrierte nach Neuseeland. Sie arbeitet in Nelson auf der Südinsel als private Klavierlehrerin.« Darunter stand Angie Kerrs komplette Adresse und Telefonnummer.
Sie hatte es nicht leicht gehabt, dachte Karen. Innerhalb von zwei Jahren ihren Bruder und beide Eltern zu verlieren war schwierig genug, auch ohne noch den Prozess durchlaufen zu müssen, bis Andy offiziell für tot erklärt wurde. Kein Wunder, dass sie auf die andere Seite der Welt ziehen wollte. Wo es, wie Karen feststellte, jetzt halb zwölf vormittags wäre. Also durchaus eine zivilisierte Zeit, um jemanden anzurufen.
Eines der wenigen Dinge, die Karen für ihr Heim gekauft hatte, war ein Anrufbeantworter, mit dem sie Digitalaufnahmen ihrer Anrufe machen konnte. Aufnahmen, die sie dann mit einem USB -Stick auf den Computer übertragen konnte. Sie hatte versucht, die Makrone zu überreden, einige fürs Büro anzuschaffen, aber er schien nicht sonderlich beeindruckt. Wahrscheinlich weil es nicht seine eigene Idee gewesen war. Karen hätte wetten können, dass wenig später ein ähnlicher Vorschlag im Hauptbüro der Kripo als Einfall von ACC Lees selbst auftauchen würde. Egal, wenigstens konnte sie das Gerät zu Haus nutzen und sich die Ausgaben für die Anrufe erstatten lassen.
Nach dem dritten Klingeln nahm eine Frau ab, deren schottischer Akzent sogar in den beiden Silben »Hallo?« erkennbar war.
Karen stellte sich vor und fragte: »Sind Sie Angie Kerr?«
»Früher Kerr. Jetzt Mackenzie. Geht es um meinen Bruder? Haben Sie ihn gefunden?« Sie klang aufgeregt, beinahe erfreut.
»Nein, leider nicht.«
»Er hat sich bestimmt nicht umgebracht, wissen Sie. Ich habe schon immer an einen Unfall gedacht. Irgendwo am Berg abgestürzt. Ganz egal, wie deprimiert er auch war, Andy hätte sich niemals umgebracht. Er war kein Feigling.« Ihr Trotz war ihr erhalten geblieben – auch bei der großen Entfernung.
»Es tut mir leid«, sagte Karen. »Ich kann Ihnen in der Hinsicht wirklich nicht weiterhelfen. Aber wir sehen uns noch einmal die Ereignisse aus der Zeit an, als er verschwand. Wir untersuchen gerade das Verschwinden von Mick Prentice und stießen dabei auf den Namen Ihres Bruders.«
»Mick Prentice«, wiederholte Angie angewidert. »Der hat sich als schöner Freund erwiesen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich glaube, es ist kein Zufall, dass er, kurz bevor Andy verschwand, als Streikbrecher arbeiten ging.«
»Warum sagen Sie das?«
Nach einer kurzen Pause antwortete Angie: »Weil es für ihn der schlimmste Verrat gewesen wäre. Die beiden waren vom ersten Schultag an Freunde. Dass Mick zum Streikbrecher wurde, hätte Andy das Herz gebrochen. Und ich glaube, er sah es kommen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Als ich ihn zum letzten Mal sah, wusste er, dass mit Mick irgendetwas los war.«
[home]
Sonntag, 2. Dezember 1984,
im Wald von Wemyss
E in Besuch zu Hause war für Angie nur vollständig, wenn sie Zeit mit ihrem Bruder verbringen konnte. Sie versuchte, wenigstens einmal im Trimester zu kommen, aber obwohl die Busfahrt von Edinburgh nur eine Stunde dauerte, schien es manchmal eine äußerst schwierige Unternehmung zu sein. Sie wusste, dass dabei eine andere Art von Entfernung ein Problem war, nämlich die zwischen ihr und ihren Eltern, weil sie sich frei in einer Welt bewegte, die den Eltern völlig fremd
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