Nacht unter Tag
war: Vorlesungen, Studentenclubs, Partys, auf denen Drogen so gewöhnlich waren wie Alkohol, und eine Vielfalt an Gesprächsthemen, die alles in den Schatten stellten, was ihr in Fife je begegnet war. Nicht dass es dort an Gelegenheiten gefehlt hätte, den geistigen Horizont zu erweitern. Aber Büchersäle, Volkshochschulkurse und die Burns-Clubs gab es nur für Männer. Frauen hatten weder die Zeit noch die Möglichkeit, daran teilzunehmen. Die Männer arbeiteten ihre Untertageschichten, und danach gehörte ihre Zeit ihnen. Aber die Arbeit der Frauen riss buchstäblich nie ab, besonders bei denen, die ihre Wohnungen noch von den alten Firmen des Kohleabbaus oder dem staatlichen Amt für die Kohleförderung gemietet hatten. Angies eigene Großmutter hatte erst heißes Wasser und ein Bad im Haus, als sie über sechzig war. Deshalb hatten die Männer hier nicht viel für gebildete Frauen übrig.
Andy war eine der Ausnahmen. Sein Wechsel vom Kohleabbau zur Gewerkschaftsarbeit hatte ihn in Fragen der allgemeinen Gleichberechtigung der Richtung näher gebracht, die von der Gewerkschaftsbewegung vertreten wurde. In den Zechen arbeiteten zwar keine Frauen, aber der Kontakt mit anderen Gewerkschaften hatte Andy überzeugt, dass die Welt nicht untergehen würde, wenn man Frauen als Partner und Mitglieder der menschlichen Rasse behandelte. Und so war der Kontakt zwischen Bruder und Schwester enger geworden, und an die Stelle der Streitereien aus Kindertagen traten echte Diskussionen. Jetzt freute sich Angie auf die Sonntagnachmittage mit ihrem Bruder, wenn sie durch den Wald streiften oder am Feuer heiße Schokolade tranken.
An jenem Nachmittag hatte Andy sie nach der Busfahrt am Ende des Weges getroffen, der bis tief in den Wald zu seinem Häuschen führte. Sie hatten geplant, am Wald entlang zur Küste hinunterzugehen, aber der Himmel sah nach drohendem Regen aus, und sie beschlossen, zur Hütte zurückzukehren. »Ich hab schon Feuer für dich gemacht«, hatte Andy gesagt, als sie losgingen. »Ich habe Schuldgefühle, noch Geld für Kohle zu haben, und heize deshalb gewöhnlich nicht ein. Ich zieh einfach einen Pullover mehr an.«
»Das ist doch Quatsch. Niemand macht dir Vorwürfe, dass du noch deinen Lohn bekommst.«
Andy schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Viele denken, wir sollten unsere Löhne in den Gewerkschaftstopf geben.«
»Und wem hilft das? Du tust deine Arbeit. Du unterstützt die Männer, die streiken. Du verdienst es, bezahlt zu werden.« Sie hakte sich bei ihm unter und verstand gut, wie angegriffen er sich fühlen musste.
»Ja, und viele Streikende meinen, sie sollten auch etwas von der Gewerkschaft bekommen. Ich habe ein paar von ihnen unten beim Wohlfahrtsverband schimpfen hören, wenn die Gewerkschaft Streikgeld gezahlt hätte, dann müsste man sich nicht so anstrengen, die Gelder vor einer Beschlagnahmung zu schützen. Sie fragen sich, wofür die Gewerkschaftsmittel da sind, wenn nicht zur Unterstützung der Mitglieder bei einem Streik.« Er seufzte und hielt den Kopf gesenkt, als müsse er gegen einen starken Wind angehen. »Das ist schon ein Argument, meinst du nicht?«
»Ich nehme an, ja. Aber wenn man seinen Anführern freiwillig die Entscheidungen überlassen hat, was sie ja durch die Zustimmung zum Streik ohne landesweite Urabstimmung getan haben, dann kann man eigentlich nicht anfangen, sich zu beklagen, wenn Entscheidungen getroffen werden, die einem nicht passen.« Angie betrachtete ihren Bruder genauer und bemerkte, dass sich seit ihrem letzten Wiedersehen die Falten um seine Augen durch die Belastung tiefer eingegraben hatten. Seine Haut sah wächsern und ungesund aus wie bei jemandem, der zu lange nicht im Freien gewesen war und nicht ausreichend Vitamine zu sich genommen hatte. »Und es hilft niemandem, wenn du dich deswegen unter Druck setzen lässt.«
»Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich niemandem viel helfen kann«, gestand er so leise, dass es fast im Rascheln der trockenen Blätter zu ihren Füßen unterging.
»Das ist doch einfach albern«, widersprach Angie, der klar war, dass das nicht genügte, aber auch nicht wusste, was sie sonst erwidern sollte.
»Nein, es ist wahr. Das Leben der Männer, die ich vertrete, wird zerstört. Sie verlieren ihre Häuser, weil sie die Hypothek nicht zahlen können. Ihre Frauen haben ihre Eheringe verkauft. Ihre Kinder gehen hungrig zur Schule. Sie haben Löcher in den Schuhen. Es ist wie in einem verdammten Dritte-Welt-Land hier,
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