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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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eine Tür. Sie winkte sie in ein Empfangszimmer hinein, in dem die Kripo bequem ihr Burns’ Supper hätte abhalten können, das jedes Jahr zur Erinnerung an den schottischen Nationaldichter veranstaltet wurde. Sie müssten nur einige Möbelstücke an die Wand rücken, um Platz für die Volkstänze zu schaffen, aber trotzdem wäre es nicht allzu eng.
    In dem Raum waren drei Personen, aber Karen stellte sich sofort auf die mit der größten charismatischen Ausstrahlung ein. Brodie Grant mochte wohl die siebzig schon überschritten haben, aber er machte trotzdem noch mehr Eindruck als die zwei Frauen rechts und links von ihm. Er stand neben dem gewichtigen behauenen Steinkamin, mit der linken Hand den rechten Ellbogen und mit der rechten lässig eine dünne Zigarre haltend. Sein Gesicht war so ruhig und markant wie auf dem Zeitungsfoto, das sie über Google gefunden hatte. Er trug eine grau-weiße Tweedjacke, deren Fall eher an Kaschmir mit Seide als an Harris- oder Donegal-Tweed denken ließ, einen schwarzen Rollkragenpullover mit dazu passender Hose und Schuhen, die Karen bisher nur an den Füßen reicher Amerikaner gesehen hatte. Sie glaubte, dass es Oxfordschuhe mit Quasten oder etwas Ähnliches waren. Sie sahen aus, als würde eher ein Püppchen im Schottenrock als ein Industriekapitän so etwas tragen. Karen war so damit beschäftigt, sein merkwürdiges Schuhwerk zu betrachten, dass sie die Vorstellungen fast verpasst hätte.
    Aber sie sah gerade noch rechtzeitig auf, um ein schwaches Lächeln um Lady Grants Mund zucken zu sehen, die ein elegantes grün-rosa meliertes Kostüm mit einem klassischen Samtkragen trug, der für Karen immer ein Zeichen für Geld und Klasse war. Aber ihr Lächeln kam ihr seltsam verschwörerisch vor.
    Susan Charleson stellte die andere Frau vor. »Das ist Annabel Richmond, eine freie Journalistin.« Karen wurde vorsichtig und nickte nur bestätigend. Was in aller Welt hatte eine Journalistin hier zu suchen? Wenn sie eines ganz bestimmt über Brodie Grant wusste, dann war es, dass er den Medien gegenüber so allergisch war, dass er jetzt jeden Moment einen anaphylaktischen Schock bekommen müsste.
    Brodie Grant trat vor und wies mit der Zigarre auf ein so weit vom Kamin entferntes Sofa, dass sie dort, wo sie Platz nehmen sollten, gerade noch in Hörweite eines Megaphons wären. Karen setzte sich vorn auf die Kante, denn ihr war klar, dass diese Art von Sitzfläche sie praktisch verschlucken und ihr dann nur noch die Möglichkeit eines unbeholfenen Abgangs lassen würde. »Miss Richmond ist auf meinen Wunsch aus zwei Gründen hier«, erklärte Grant. »Zum ersten komme ich gleich. Der andere ist ihre Rolle als Kontaktperson zwischen den Medien und der Familie. Ich werde keine Pressekonferenzen halten oder sentimentale Erklärungen im Fernsehen abgeben. Sie ist also Ihre erste Ansprechpartnerin, wenn Sie etwas suchen, das Sie den Raubtieren zum Fraß vorwerfen können.«
    Karen neigte den Kopf. »Das ist Ihr gutes Recht«, sagte sie und versuchte so zu klingen, als mache sie ihm aus reiner Herzensgüte ein Zugeständnis. Alles war ihr recht, um die Kontrolle wiederzuerlangen. »Ich habe von Mr.Lees gehört, dass Sie vermuten, es seien neue Beweismittel zur Entführung Ihrer Tochter und Ihres Enkels aufgetaucht?«
    »Es sind allerdings neue Beweise. Daran besteht kein Zweifel. Susan?« Er sah sie erwartungsvoll an. Klug genug, um die Wünsche ihres Chefs vorauszuahnen, eilte die Assistentin schon mit einem Stück Sperrholz in einer Plastikhülle auf sie zu. Als sie näher herankam, drehte sie es zu Karen und Phil um.
    Karen empfand eine leise Enttäuschung. »Das ist nicht das erste Mal, dass wir so etwas sehen«, bemerkte sie, während sie den Schwarzweißdruck des Puppenspielers und seiner unheimlichen Marionetten studierte. »Ich bin in der Akte auf drei oder vier Beispiele gestoßen.«
    »Eigentlich fünf«, nahm Grant ihren Einwand auf. »Aber keines wie das hier. Die anderen wurden ausgesondert, weil sie von den Originalen abwichen. Die Reproduktionen, die DCI Lawson damals an die Medien verteilte, waren leicht abgeändert, damit wir eventuelle Trittbrettfahrer ausschließen konnten. Alle Drucke, die seitdem aufgetaucht sind, waren Kopien der veränderten Versionen.«
    »Und dieser ist anders?«, wollte Karen wissen.
    Grant nickte zustimmend. »Ganz genau, Inspector. Er ist in jeder Hinsicht identisch. Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Belohnung, die ich geboten habe, manche

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