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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Leute in Versuchung führt. Ich habe meine eigene Kopie des Originals aufbewahrt, damit ich alles, was mir gebracht würde, direkt vergleichen konnte. Wie zum Beispiel dies hier.« Er lächelte matt. »Nicht dass ich eine Kopie gebraucht hätte. Ich werde niemals auch nur ein einziges Detail vergessen. Als ich das Poster zum ersten Mal erblickte, brannte es sich in mein Gedächtnis ein.«

[home]
Samstag, 19. Januar 1985
    M ary Grant goss ihrem Mann eine zweite Tasse Kaffee ein, bevor er merkte, dass er die erste schon geleert hatte. Sie tat das schon so viele Jahre, dass es ihn immer wieder überraschte, wie oft er seine Tasse nachfüllen lassen musste, wenn er in Hotels übernachtete. Er blätterte die Seite seiner Zeitung um und knurrte: »Endlich mal gute Nachrichten. Lord Wolfenden hat die irdische Verstrickung abgestreift.«
    Auf Marys Gesicht erschien eher müde Resignation als ein Schock. »Es ist schrecklich, so etwas zu sagen, Brodie.«
    Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Der Mann hat die Welt noch schlimmer gemacht, Mary. Deshalb tut es mir nicht leid, dass er fort ist.«
    Die vielen Ehejahre hatten Mary Grant die Streitlust zum größten Teil ausgetrieben. Aber selbst wenn sie die Absicht gehabt hätte, etwas zu erwidern, hätte sie keine Gelegenheit dazu gehabt. Zur Überraschung des Ehepaars Grant flog ohne vorheriges Anklopfen die Tür des Frühstücksraums auf, und Susan Charleson kam praktisch hereingestürzt. Brodie ließ die Zeitung auf sein Rührei fallen und bemerkte ihre geröteten Wangen und ihren keuchenden Atem.
    »Entschuldigung«, stammelte sie. »Aber Sie müssen das sehen.« Sie streckte ihm einen großen braunen Briefumschlag entgegen. Es standen sein Name und seine Adresse darauf, darüber und darunter die Worte »Privat« und »Vertraulich« mit einem dicken Filzstift geschrieben.
    »Was gibt es, um Gottes willen, das nicht bis nach dem Frühstück warten kann?«, murrte er, steckte zwei Finger in den Umschlag und sah darin ein Stück dickes, viermal zusammengefaltetes Papier.
    »Das hier«, sagte Susan und zeigte auf den Umschlag. »Ich habe es wieder in den Umschlag geschoben, weil ich nicht wollte, dass andere es sehen.«
    Mit einem ungeduldigen Brummen zog Grant das Papier heraus und faltete es auseinander. Es sah aus wie ein Ankündigungsposter für ein makabres Puppenspiel. In schlichtem Schwarz und Weiß beugte sich ein Puppenspieler über die Bühne und führte eine Gruppe von Marionetten, unter ihnen ein Skelett und eine Ziege. Es erinnerte ihn an die Art von Drucken, die er einmal in einer Fernsehsendung über die von Hitler gehasste Kunst gesehen hatte. Während er noch daran dachte, fiel sein Blick auf den unteren Teil des Posters. Wo man Angaben zur Vorstellung des Puppenspiels erwartet hätte, war eine ganz andere Botschaft zu lesen.
    Der raffgierige und ausbeuterische Kapitalismus muss bestraft werden. Wir haben Ihre Tochter und Ihren Enkel in unserer Gewalt. Tun Sie, was wir Ihnen befehlen, wenn Sie sie wiedersehen wollen. Keine Polizei. Gehen Sie einfach Ihren Geschäften nach wie immer. Wir beobachten Sie.
    Wir werden uns bald wieder bei Ihnen melden.
    Anarchistischer Kampfbund Schottlands.
    »Ist das etwa ein makabrer Scherz?«, fragte Grant, warf das Poster auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. Während er aufstand, nahm Mary das Blatt, ließ es dann aber fallen, als hätte sie sich die Finger verbrannt.
    »O mein Gott«, flüsterte sie. »Brodie?«
    »Es ist ein Trick«, entschied er. »Irgendein kranker Bastard versucht, uns ein bisschen einzuschüchtern.«
    »Nein«, widersprach Susan. »Es geht um mehr.« Sie hob den Umschlag auf, der zu Boden gefallen war, und ließ ein Polaroidfoto herausgleiten. Schweigend reichte sie es Grant.
    Er sah seine einzige Tochter, auf einem Stuhl festgebunden. Ihr Mund war mit einem Stück Paketband verklebt, ihr Haar zerzaust, verschmierter Schmutz oder ein blauer Fleck auf ihrer linken Wange. Eine Hand in einem Handschuh hielt zwischen ihr und der Kamera die Titelseite der gestrigen
Daily Record
hoch, so dass kein Zweifel bestehen konnte. Grant spürte, wie seine Beine nachgaben, und fiel auf seinen Stuhl zurück, seine Lider flatterten, während er versuchte, wieder die Gewalt über sich zurückzugewinnen. Mary griff nach dem Foto, aber er schüttelte den Kopf und hielt es fest an seine Brust gepresst. »Nein«, sagte er. »Nein, Mary.«
    Nach einem langen Schweigen fragte Susan: »Was soll ich tun?«
    Grant konnte

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