Nacht unter Tag
Und als das Testament verlesen wurde, war das für Jenny ein schlimmer Schock. Er hatte Misha alles als Treuhandvermögen hinterlassen. Sie bekam es, als sie fünfundzwanzig wurde, und Jenny hat nie einen Penny davon gesehen.« Mrs.McGillivray hob ihre Teetasse wie zum Anstoßen. »Ist ihr recht geschehen, wenn Sie mich fragen.«
Karen brachte es nicht über sich, ihr zu widersprechen. Sie trank ihre Tasse aus, schob ihren Stuhl zurück und sagte: »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Er war ja sogar genau an dem Tag hier, als Mick nach Nottingham gegangen ist«, erzählte Mrs.McGillivray. Worte, die wirkten, als würde man jemanden am Ärmel fassen, um ihn am Gehen zu hindern.
»Tom Campbell?«
»Genau der.«
»Wann ist er gekommen?«, fragte Karen.
»Es muss gegen drei Uhr gewesen sein. Nachmittags höre ich mir im Wohnzimmer gern das Hörspiel im Radio an. Ich sah ihn den Weg hochgehen und dann warten, bis Jenny zurückkam. Ich glaube, sie war unten bei der Wohlfahrt, sie hatte Päckchen und Dosen, eine von den Spenden, die sie dort ausgaben.«
»Sie scheinen sich sehr gut daran zu erinnern.«
»Ich weiß es noch so gut, weil ich an dem Morgen Mick zum letzten Mal gesehen habe. Es ist mir im Gedächtnis geblieben.« Sie goss sich noch eine Tasse Tee ein.
»Wie lang ist er geblieben? Tom Campbell, meine ich.«
Mrs.McGillivray schüttelte den Kopf. »Da kann ich Ihnen nicht helfen. Nachdem das Hörspiel vorbei war, machte ich mich auf den Weg runter zum Anger, um den Bus nach Kirkcaldy zu nehmen. Jetzt kann ich das nicht mehr, aber früher bin ich immer in den großen Tescomarkt unten bei der Bushaltestelle gegangen. Ich fuhr mit dem Bus hin und mit der Taxe zurück. Deshalb weiß ich nicht, wie lange er geblieben ist.« Sie nahm einen großen Schluck Tee. »Manchmal hab ich mir da so meine Gedanken gemacht, wissen Sie.«
»Worüber denn?«
Die alte Frau schaute weg, fasste in die Tasche ihrer schlabberigen Strickjacke und holte ein Päckchen Benson & Hedges hervor. Sie zog eine Zigarette heraus und ließ sich Zeit mit dem Anzünden. »Ich hab mich gefragt, ob er Mick abgefunden hat.«
»Sie meinen, er bezahlte ihn, damit er den Ort verließ?« Karen konnte ihre Skepsis nicht verbergen.
»Das ist gar keine so dumme Idee. Wie gesagt, Mick hatte seinen Stolz. Er wäre nicht hiergeblieben, wo er meinte, nicht erwünscht zu sein. Wenn er also sowieso schon entschlossen war, zu gehen, hat er vielleicht Tom Campbells Geld genommen.«
»Aber sicher hatte er doch dafür zu viel Selbstachtung?«
Mrs.McGillivray stieß eine dünne Rauchfahne aus. »Es wäre so oder so schmutziges Geld gewesen. Aber vielleicht fühlte sich Tom Campbells Geld ein bisschen sauberer an als das von der staatlichen Kohlegesellschaft. Und außerdem – als er an dem Morgen das Haus verließ, sah es nicht so aus, als wollte er weiter gehen als bis zur Küste zum Malen. Wenn Tom Campbell ihn bezahlt hätte, hätte er nicht mehr wegen seinen Kleidern oder sonst etwas zurückkommen müssen, oder?«
»Sie sind sicher, dass er seine Sachen nicht später geholt hat?«
»Ich bin sicher. Glauben Sie mir, in der Siedlung hier gibt es keine Geheimnisse.«
Karens Blick ruhte auf der alten Frau, aber ihre Gedanken schweiften ab. Sie glaubte auf keinen Fall, dass Mick Prentice seinen Platz im Ehebett an Tom Campbell verkauft hatte. Aber vielleicht hatte Tom Campbell diesen Platz so sehr haben wollen, dass er einen anderen Plan gefasst hatte, um seinen Rivalen loszuwerden.
Von wegen ein bisschen Hintergrundinformation zum Charakter sammeln. Karen unterdrückte einen Seufzer und sagte: »Ich würde gern am Montagvormittag zwei meiner Leute vorbeischicken. Könnten Sie ihnen vielleicht erzählen, was Sie mir geschildert haben?«
Mrs.McGillivray lebte auf. »Das wäre prima. Ich könnte Scones backen.«
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Rotheswell Castle
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