Nacht unter Tag
mehr als ein bisschen Sommer nötig wäre.
Diesmal ging Karen auf Jenny Prentice’ Nachbarhaus zu. Sie wollte nach wie vor unbedingt ein Gefühl dafür bekommen, was für ein Mensch Mick Prentice wirklich gewesen war. Eine Frau, mit der die Familie so gut bekannt war, dass man ihr Misha anvertraute, hatte bestimmt auch mit ihrem Vater zu tun gehabt.
Karen klopfte an und wartete. Gerade wollte sie aufgeben und zum Wagen zurückkehren, als die Tür mit vorgelegter Kette einen Spaltbreit geöffnet wurde. Ein winziges runzliges Gesicht spähte unter einer Masse grauer Locken hervor.
»Mrs.McGillivray?«
»Ich kenne Sie nicht«, sagte die alte Frau.
»Nein.« Karen nahm ihren Dienstausweis heraus und hielt ihn vor die verschmierten Gläser der großen Brille, die die verblassten blauen Augen dahinter verschwimmen ließen. »Ich bin von der Polizei.«
»Ich habe die Polizei nicht gerufen«, verwahrte sich die Frau, legte den Kopf schief und runzelte beim Anblick von Karens Ausweis die Stirn.
»Das weiß ich. Ich möchte nur kurz mit Ihnen über den Mann reden, der früher im Nachbarhaus gewohnt hat.« Karen wies mit dem Daumen auf Jennys Haus.
»Tom? Der ist schon seit Jahren tot.«
Tom? Wer war Tom? Ach Mist, sie hatte vergessen, Jenny Prentice nach Mishas Stiefvater zu fragen. »Nicht Tom, nein. Mick Prentice.«
»Mick? Sie wollen über Mick sprechen? Was hat die Polizei mit Mick zu schaffen? Hat er etwas Verbotenes getan?« Sie klang verwirrt, was Karen mit einer bangen Vorahnung erfüllte. Denn sie hatte schon genug Zeit mit Versuchen zugebracht, aus alten Leuten zusammenhängende Auskünfte herauszubekommen, um zu wissen, dass es eine mühselige Aufgabe mit zweifelhaftem Ergebnis sein konnte.
»Nichts dergleichen, Mrs.McGillivray«, beruhigte sie Karen. »Wir versuchen nur herauszufinden, was damals vor Jahren mit ihm passiert ist.«
»Er hat uns alle im Stich gelassen, das ist passiert«, erwiderte die alte Frau steif.
»Stimmt. Aber ich müsste kurz ein paar Einzelheiten abklären. Könnte ich vielleicht reinkommen und mich ein bisschen mit Ihnen unterhalten?«
Die Frau atmete schwer aus. »Sind Sie sicher, dass Sie das richtige Haus erwischt haben? Sie wollen doch bestimmt mit Jenny sprechen. Ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Ehrlich gesagt, Mrs.McGillivray, ich würde gern wissen, was für ein Mensch Mick wirklich war.« Karen setzte ihr nettestes Lächeln auf. »Jenny ist ja ein bisschen voreingenommen, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
Die alte Frau lachte leise. »Sie ist ein furchtbarer Drachen, die Jenny. Sie lässt kein gutes Haar an ihm, oder? Na ja, mein Mädchen, dann kommen Sie mal rein.« Die Kette klirrte beim Abnehmen, dann wurde Karen Zutritt in eine stickige Wohnung gewährt. Es herrschte ein überwältigender Lavendelduft mit Untertönen von altem Fett und billigen Zigaretten. Sie folgte Mrs.McGillivrays gebeugter Gestalt bis in das hintere Zimmer, dessen Wand man eingerissen hatte, um eine Küche mit Essecke einzurichten. Es sah aus, als sei es schon in den siebziger Jahren gemacht und seitdem einschließlich der Tapete nichts verändert worden. Verschiedene verblasste und mit Flecken übersäte Stellen zeugten vom Sonnenlicht und dass hier gekocht wie auch geraucht wurde. Das Licht der niedrig stehenden Sonne fiel auch jetzt herein und warf schräge goldene Strahlen auf die abgenutzten Möbel.
Ein Wellensittich im Käfig tschilpte beängstigend laut, als sie eintraten. »Sei jetzt still, Jocky. Das ist eine nette Lady von der Polizei, die will mit uns reden.« Der Wellensittich ließ einen Strom von Zwitschergeräuschen los, die klangen, als verfluche er sie, dann verstummte er. »Setzen Sie sich doch. Ich stell Wasser auf.«
Karen wollte eigentlich keinen Tee, aber sie wusste, die Unterhaltung würde besser vorankommen, wenn sie zuließ, dass die alte Frau sie bewirtete. Schließlich saßen sie einander an einem sauber gescheuerten Tisch gegenüber, eine Kanne Tee und einen Teller mit offensichtlich selbstgebackenen Plätzchen zwischen ihnen. Die Sonne beschien Mrs.McGillivray wie eine Bühnenbeleuchtung und zeigte Details ihres Make-ups, das sie offensichtlich ohne Brille aufgetragen hatte.
»Er war ein netter Junge, der Mick. Ein gutaussehender Bursche mit seinen blonden Haaren und den breiten Schultern. Er hatte immer ein Lächeln und ein fröhliches Wort für mich übrig«, vertraute sie Karen an, während sie den Tee in die Porzellantassen goss, die so dünn waren,
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