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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Getreide und Weiden vorbei, die Sonne stahl sich immer wieder zwischen den finsteren grauen Wolken hervor, und dabei ergossen sich seine Worte wie ein verwirrender Strom. Es war schwierig für Bel, eine professionelle Distanz zu halten. Das Leben mit ihrem Neffen Harry hatte ihr genug Einblicke gewährt, dass sie sich leicht die Angst von Eltern in Brodie Grants Lage vorstellen konnte. Dieses Verständnis erfüllte sie so mit Mitgefühl, dass sie ihn praktisch von jeglicher Kritik freisprach. »Wir warteten«, sagte er. »Ich habe nie wieder erlebt, dass sich die Zeit so quälend hinziehen kann wie damals.«

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Montag, 21. Januar 1985,
Rotheswell Castle
    F ür einen Mann, der nicht einmal die Geduld aufbrachte, ein Glas Guinness so lang stehenzulassen, bis sich die Schaumkrone gesetzt hat, war das Warten auf eine Nachricht von den schottischen Anarchisten eine raffinierte Folter. Grant raste durch Rotheswell wie eine Flipperkugel. Fast wörtlich prallte er von Wänden und Türöffnungen ab bei dem Versuch, seinen Zusammenbruch zu vermeiden. Es waren weder Sinn noch Logik in seinem ständigen Hin und Her, und wenn er und seine Frau aufeinanderstießen, war er kaum imstande, Worte zu finden, um auf ihre ängstlichen Fragen zu antworten.
    Mary schien sich viel mehr unter Kontrolle zu haben, und das nahm er ihr beinah übel. Sie war in Cats kleinem Haus gewesen und berichtete ihm und Lawson, dass außer einem umgekippten Stuhl in der Küche alles an Ort und Stelle zu sein schien. Das Ablaufdatum der Milch war Sonntag gewesen, was hieß, dass sie erst seit ein paar Tagen weg war.
    Die Nächte waren schlimmer als die Tage. Er schlief nicht, sondern klappte einfach zusammen, wenn ihn die körperliche Erschöpfung überwältigte. Dann fuhr er aus dem Schlaf hoch, verwirrt und unausgeruht. Sobald er bei sich war, wünschte er, er wäre wieder ohne Bewusstsein. Er wusste, dass er sich normal benehmen sollte, konnte es aber nicht. Susan strich alle seine Termine, und er verkroch sich hinter den Mauern von Rotheswell.
    Am Montagmorgen glich er mehr einem Wrack als jemals zuvor. Sein Gesicht im Spiegel sah aus, als gehöre es in ein Kriegsgefangenenlager, nicht in das Schloss eines reichen Mannes. Es war ihm sogar gleichgültig, dass seine Umgebung seine Schwäche erkennen konnte. Er wollte nur, dass die Post kam und etwas Konkretes brachte, etwas, das ihn von der Machtlosigkeit befreien und ihm eine Aufgabe zuweisen würde. Selbst wenn es das Aufbringen gleich welchen Lösegeldbetrags wäre, den die Scheißkerle wollten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er das Sortierzentrum in Kirkcaldy überwacht oder wie ein altmodischer Wegelagerer seinen Briefträger abgefangen und seine Post verlangt. Aber er gab zu, dass das verrückt wäre. Stattdessen ging er hinter dem Briefschlitz auf und ab, in den irgendwann zwischen halb neun und neun die Korrespondenz für das Schloss geworfen würde.
    Lawson und Rennie waren schon da. Um acht waren sie über die hintere Einfahrt im Auto eines Klempners gekommen und trugen Blaumänner. Jetzt saßen sie untätig in der Diele und warteten auf die Post. Mary hockte benommen von dem Valium, das zu nehmen er sie gedrängt hatte, in Pyjama und Morgenmantel, die Arme um die Beine geschlungen, das Kinn auf die Knie gestützt, auf der untersten Treppenstufe. Susan ging mit Tee und Kaffee hin und her und verbarg Gott weiß was unter ihrer gewohnten Gefasstheit. Grant hatte auf jeden Fall keine Ahnung, wie sie es die letzten zwei Tage geschafft hatte, nicht die Haltung zu verlieren.
    Lawsons knackendes Funkgerät empfing eine unverständliche Nachricht, nur ein paar Augenblicke später raschelte es, und der Briefschlitz klapperte. Das Bündel Tagespost rauschte zu Boden, und Grant stürzte sich darauf wie ein Verhungernder auf die versprochene Mahlzeit. Lawson war fast genauso schnell und packte den großen braunen Umschlag nur Sekunden später, nachdem Grants Finger ihn sich geschnappt hatten. »Ich nehme das an mich«, bestimmte er.
    Grant entriss ihm den Umschlag. »Nein, das werden Sie nicht tun. Er ist an mich adressiert, und Sie werden ihn noch früh genug sehen.« Er presste ihn an seine Brust, stand auf und wich vor Lawson und Rennie zurück.
    »Okay, okay«, lenkte Lawson ein. »Regen Sie sich nicht auf, Sir. Setzen Sie sich doch neben Ihre Frau.«
    Zu seiner eigenen Überraschung tat Grant, was Lawson vorgeschlagen hatte, und sank neben Mary auf die Treppe. Er starrte den Umschlag an

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