Nacht
hatte. Ich hatte ihn nicht eingeladen.
Er hätte sich besser um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollen.
Und jetzt war er nicht nur tot, er hatte mich auch in eine äußerst prekäre Lage gebracht.
Was sollte ich jetzt tun?
Ich hörte auf, das Foto anzustarren, und las die Adresse auf dem Führerschein. 4468 Washington Avenue, App. 212. (Klingt realistisch, nicht wahr? Ist aber alles frei erfunden!) Ich kannte die Gegend. Sie war weniger als zehn Autominuten von hier entfernt. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, musste er die Pistole geschnappt und sofort ins Auto gestiegen sein …
Stimmt nicht.
Er wohnte ja gar nicht mehr in dieser Wohnung, war umgezogen wegen der Erinnerungen, mit denen er nicht mehr fertig wurde. Das war ja einer der Gründe gewesen, weshalb er Judy angerufen hatte
– um ihr seine neue Telefonnummer zu geben.
Bestimmt hatte er auf seinem Führerschein die Adresse noch nicht ändern lassen, denn dann hätte er wohl auch gleich ein neueres Foto hineingetan.
Ich durchsuchte daraufhin noch einmal den Geldbeutel und fand auch ziemlich rasch, was ich suchte: einen gefalteten Zettel, auf den mit Bleistift eine Adresse gekritzelt war: 645 Little Oak Lane, App. 12.
(Geändert!) Das war wohl seine neue Anschrift.
Ich steckte den Zettel zurück, legte die Brieftasche beiseite und sah mir die Pistole an.
Es war eine kleine 22er Smith & Wesson aus Edelstahl. Entsichert.
Vorsichtig nahm ich das Magazin aus dem Griff und zog den Verschlussschlitten zurück. Im Lauf steckte keine Patrone. Ich schob das Magazin wieder hinein, bis es hörbar einrastete, dann bewegte ich den Schlitten nach hinten und lud damit die Waffe durch, bevor ich sie sicherte.
Und dann blieb ich einfach nur sitzen.
Ich hatte keine Energie, aufzustehen.
Ich starrte bloß auf den Steinfußboden und überlegte angestrengt, was ich als Nächstes tun sollte.
Etwas musste ich tun, das war klar. Aber was?
Was tut man wohl am besten, wenn man gerade einen unschuldigen Mann abgeschlachtet hat?
Die Polizei anrufen und die Wahrheit sagen, sagen Sie jetzt bestimmt.
Oder vielleicht auch ein bisschen flunkern. Behaupten, dass er die Pistole in der Hand hatte, als ich die Tür öffnete. Um das glaubhaft zu machen, müsste ich nur nach draußen gehen und ihm die Pistole in die Hand drücken.
Aber in welche Hand? Im Fernsehkrimi machen sie das immer falsch. Da geben sie einem toten Linkshänder die Knarre in die Rechte und zack, sind sie überführt.
Ich bin ein bisschen schlauer als die.
Tony hatte die Pistole in der rechten Gesäßtasche gehabt. Er hatte auch mit der rechten Hand nach mir gegriffen.
Nach mir gegriffen? Vielleicht hatte er auch nur auf den Klingelknopf drücken wollen.
Auf alle Fälle war er ein Rechtshänder.
Nicht, dass das eine Rolle spielte. Ich hatte nicht vor, ihm die Pistole in die Hand zu drücken.
Ebenso wenig wie ich vorhatte, die Polizei zu rufen.
Jetzt denken Sie wahrscheinlich: Oh, du blöde Kuh! Ein Typ, den du noch nie im Leben gesehen hast, taucht mitten in der Nacht bei dir auf und hat auch noch eine Knarre dabei! Klarer Fall von Notwehr!
Falsch.
Bei Ihnen mag das vielleicht zutreffen. Vermutlich sind Sie ein guter, aufrechter Bürger. Einer von denen, die noch nie in Schwierigkeiten waren.
An Ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich auch die Bullen gerufen und alles zugegeben. Und alles wäre paletti gewesen.
Ich bin aber nicht Sie.
Ich bin ich, alias Alice.
Es wäre vielleicht noch gut gegangen, wenn ich die Polizei wegen des Einbrechers angerufen hätte. Das wäre eine todsichere Sache gewesen, denn meine Probleme mit dem Gesetz lagen schon ein paar Jahre zurück und waren in einem anderen Staat passiert. Die Polizisten, die wegen des Einbrechers gekommen wären, hätten mit Sicherheit nichts davon gewusst.
Mit einem Toten vor meiner Türschwelle war das eine ganz andere Sache. Da würden ausführliche Ermittlungen angestellt werden.
Bei denen man meine Fingerabdrücke überprüfen würde.
Und herausfinden würde, wer ich bin.
Und dann hätte ich keine Chance mehr.
Also musste Tony verschwinden.
Tony und sein Auto, falls er mit dem Auto gekommen war.
Ich hatte also noch viel zu tun in dieser Nacht.
Trotzdem blieb ich noch eine Weile auf dem Steinfußboden im Gang sitzen und überlegte, womit ich anfangen sollte.
Schließlich fasste ich den Entschluss, mich erst mal umzuziehen.
Für das, was ich jetzt tun musste, war Charlies Kimono wahrlich nicht die richtige
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