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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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antennenbewehrten Wels zwischen Puppen und Blechautos. »Fahren wir weiter«, sagte er. »Wir haben einen straffen Zeitplan einzuhalten.«
    Sie stiegen ein. Mit ratterndem Motor bogen sie in die Möhnestraße ein. Er erspähte ein Flugzeug am Himmel, weit, weit oben. Es hätte eine Schwalbe sein können, so klein wirkte es. Kerzengerade zog es seine Bahn über der Talsperre. »Wird eine britische Maschine sein. Die Engländer spähen Dortmund aus.«
    »Ich glaube eher, die gucken in Duisburg nach, ob sie was getroffen haben. Muss eine herbe Enttäuschung sein. Warum hören die Tommys nicht auf den Wetterbericht? Wenn ich ’ne Meute Bomber hätte, würde ich vor dem Angriff nachschauen, ob der Himmel bewölkt ist. Was bringt das, wenn man nicht sieht, wo man seine Geschenke ablädt? Die sind beinahe so dumm wie die Amerikaner. Ich sag’s Ihnen, in ein paar Monaten, wenn wir mit Russland fertig sind, erobern wir England. Wissen Sie noch? Jeder Schuss ein Russ’, jeder Stoß ein Franzos’, jeder Tritt ein Brit’.« Der Fahrer lachte.

6
    Nadjeschka wurde schwarz vor Augen, als sie vom Lastwagen stieg. Sie musste sich abstützen und warten, bis der Schwächeanfall vorüber war. Jemand hielt ihr eine Tasse hin und forderte sie in russischer Sprache auf zu trinken.
    Sie tauchte ihre aufgeplatzten Lippen in das warme Nass. Pfefferminztee. In großen Schlucken trank sie die Tasse aus. »Gibt’s noch mehr?«, fragte sie.
    »Ihr habt lange nichts bekommen.« Eine Frau mit braunen Augen schöpfte mit der Kelle weiteren Tee aus dem Topf in die Tasse. »Du bist Ukrainerin, nicht wahr? Ich hör’s am Dialekt.« Auch die anderen Neuankömmlinge hielten ihr leere Tassen hin, und sie füllte sie nach.
    Eine Landsmännin! Deshalb hatte das Russisch der Frau einen vertrauten Beiklang gehabt. »Nadjeschka aus Stepove bei Odessa«, antwortete sie in ihrer Muttersprache.
    »Willkommen in Neheim.« Jetzt sprach auch sie Ukrainisch. »Ich bin Oksana.« Sie hatte ein breites Becken und grobe Wangenknochen, vierzig mochte sie sein oder fünfzig, sie war so abgemagert und in einer derart schlechten Verfassung, dass das Alter schwer zu schätzen war.
    Ratternd fuhr der Lastwagen davon. Die beiden Wehrmachtssoldaten und der Mann, der sie am Bahnhof ausgewählt hatte, blieben zurück. Nadjeschka sah sich um. Sie befanden sich am Rand einer kleinen Stadt, zur Linken einen bewaldeten Hang, zur Rechten Kühe auf der Weide. Ein idyllischer Ort, wären nicht die lang gestreckten, weiß gestrichenen Baracken gewesen, die den Platz säumten, und die Wachposten, die mit Gewehren von Türmen auf sie niederblickten. Hinter dem Lastwagen schlossen Soldaten das Tor.
    Der Mann mit der Lederhand stellte sich breitbeinig auf und brüllte: »Antreten!«
    »Nimm dich vor dem in Acht«, sagte Oksana. Sie übersetzte den anderen, die kein Deutsch verstanden, den Befehl des Mannes ins Russische.
    Zu spät, dachte Nadjeschka, ich hab ihn bereits kennengelernt.
    Gehorsam nahmen sie Aufstellung. Ihre Wange klopfte, sie tastete danach und fand sie heiß wie von Fieber. Es würde einen hässlichen Bluterguss geben.
    Der Mann, der ihr am Bahnhof aufgeholfen hatte, sagte: »Die Firma Trögelkind & Winkler hat für euch viel Geld ausgegeben. Sie hat sämtliche Kosten eures Transports übernommen, dazu die Desinfektion und die ärztliche Untersuchung. Sie kommt auch für eure Ernährung und Unterkunft hier im Lager auf. Dafür wird erwartet, dass ihr gute und zuverlässige Arbeit leistet.«
    Er trug einen Anzug, glänzende schwarze Schuhe und eine feine Nickelbrille. Bestimmt ist er reich, dachte Nadjeschka. Sie beobachtete, wie der Wind ihm in den blonden Haarschopf fuhr. Mochte sein, dass er sich geschliffen ausdrückte, aber er war ein Sklavenhändler, der nur an seinen Vorteil dachte. Die Firma bezahlte ihm sicher ein stattliches Kopfgeld für jede von ihnen.
    »Das eigenmächtige Verlassen des Lagers oder der Fabrik ist verboten. Wer schludrig arbeitet oder sabotiert oder andere dazu aufhetzt, wird in ein Konzentrationslager überstellt. Unsittliche Handlungen mit deutschen Männern führen zum Tod durch den Strang.«
    Die grauenvollen Worte sanken nach und nach in Nad jeschkas Bewusstsein ein: Konzentrationslager. Tod durch den Strang.
    »Mein Name ist Georg Hartmann. Ich bin hier der La gerführer und zuständig für eure Unterkunft, Verpflegung, Hygiene und Disziplin. Ich erwarte, dass ihr eure Baracke regelmäßig putzt, dass ihr sie lüftet und sauber

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