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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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nicht. Aber irgendeine der Frauen wird es Agatha sagen, die unsere Baracke führt, und die gibt es an ihre Verbindungsleute von der Geheimen Staatspolizei weiter. Dann kommt morgens um vier ein schwarzes Auto vorgefahren, und sie holen dich ab. Das passiert hier immer wieder.«
    Nadjeschka ballte die Fäuste. »Ich soll also brav arbeiten und hungern.«
    »Diese Baracke ist jetzt euer Zuhause. Ihr habt es gut getroffen. Die anderen Lager sind viel schlimmer. Bald werdet ihr euch über jede Stunde freuen, die ihr hier verbringen dürft.«
    » Freuen soll ich mich? In diesem Loch?«
    Oksana seufzte. »Ich würde euch das gern ersparen. Euch allen.«
    Etwas an der Art, wie Oksana das sagte, verwirrte sie. »Du meinst nicht die Baracke, oder? Wovon redest du?«
    »Das wirst du morgen verstehen.«
    Georg Hartmann schloss seine Wohnungstür auf, trat ein und hängte den Schlüssel an das Schlüsselbrett. Er fühlte sich, als würde er die Schule schwänzen, weil er nicht in der Bürobaracke saß, sondern einfach am Vormittag heimgegangen war. Er zog sich die Schuhe aus und stellte sie in das kleine Schuhregal. Aus der Wohnung über ihm hörte er Poltern und Kreischen, die Kinder der Nesselbrücks tobten mal wieder durch die Wohnung. Sie stritten den ganzen Tag, und wenn sie sich ausnahmsweise nicht zankten, zerstörten sie einvernehmlich die Möbel.
    Den Eltern fehlte die Strenge im Umgang mit ihren Spröss lingen – Kinder brauchten Regeln und ein geordnetes Leben. Herr Nesselbrück war zur Wehrmacht eingezogen worden, und Frau Nesselbrück musste im Bekleidungsladen ihres Vaters aushelfen. Eine Tante sah ab und an nach den Kindern. Sie konnte den abwesenden Vater und die erst abends heimkehrende Mutter nicht ersetzen.
    Einmal war er hochgegangen, hatte geläutet und die Kinder zur Räson gebracht. Frau Nesselbrück hatte bei ihrer Heimkehr eine ordentliche Wohnung und brave Kinder vorgefunden, aber seltsamerweise freute sie sich nicht, sondern bat ihn, künftig derartige Eingriffe zu unterlassen. Schämte sie sich für ihren verzogenen Nachwuchs? Oder befürchtete sie, er wolle ihr, der Mutter, nachstellen? Die Kinder grüßten ihn jetzt immer artig im Treppenhaus. Frau Nesselbrück grüßte seither nicht mehr.
    Die Kleine von Maiers übte nebenan Klavier. Sie spielte schon recht gut, wenn man ihr Alter bedachte. Für die Maiers war er, seit er das Barackenlager leitete, wieder ein angesehener Nachbar. Sie vermuteten wahrscheinlich, dass er Beziehungen zur Partei besaß, anders war ein Posten an der Heimatfront nicht zu kriegen, jeder wollte so etwas ergattern, um nicht eingezogen zu werden.
    Georg ging ins Wohnzimmer, trat zum Fenster und schob die Gardine zur Seite. Die Straße lag verlassen da. Unten im Lager war sicher auch alles ruhig. Die Stubenälteste, die er für heute von der Fabrikarbeit befreit hatte, kümmerte sich um die Neuen, und morgen würden sie sich in den Arbeitsprozess eingliedern und rasch die wenigen Handgriffe lernen, die sie benötigten, um ihre Rolle zur Zufriedenheit der Ingenieure zu erfüllen.
    Er sah auf die Armbanduhr: zehn nach neun. Pünktlich um neun Uhr hatte er hier sein wollen, um sicherzugehen. Für gewöhnlich kam der Postbote um halb zehn, er hatte also noch zwanzig Minuten Zeit.
    Aus dem Stapel alter Reifeprüfungen zog er sich eine heraus und setzte sich in den Lesesessel. Es war wichtig, dass er im Stoff blieb. Den Posten im Barackenlager hatte er nur angenommen, damit er nicht an die Front musste. Hätte sein Schwager ihm den nicht zugeschanzt, wäre er mit Sicherheit nach Osten geschickt worden und vielleicht in Stalingrad erfroren wie so viele andere. Er hätte auf Menschen schießen müssen. Das brachte er nicht fertig. Leute abzuknallen, das hätte ihn innerlich zerbrochen. Lieber überwachte er hier zu Hause Russinnen und Ukrainerinnen. Sicher konnte er in den Schuldienst zurückkehren, wenn der Krieg vorüber war.
    Er schlug das Heft auf. Ein Vergleich der Französischen Revolution mit der deutschen achtundvierziger Revolution und der Russischen Revolution von 1917. Durfte man solche Themen heute überhaupt noch stellen?
    Sie schmissen ja sämtliche Lehrpläne um. Mit den aberwitzigsten Begründungen. Heinrich Heine wurde aus den Schulbüchern verbannt, weil er aus einer jüdischen Familie stammte. Aber da die Nazis um die Loreley nicht herumkamen, stand jetzt im Deutschbuch unter der Ballade: Autor unbekannt. Was die konnten, konnte er auch. Er musste den

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