Nachtauge
Namen einzuprägen. Warum hatte sie nicht »Heil Hitler« gesagt, wie es vorgeschrieben war? Hielt ihn jetzt jeder für einen Regierungsgegner, weil er nicht der Partei beigetreten war? Damit war er doch noch längst nicht politisch unzuverlässig, wie es von den Nationalsozialisten genannt wurde. Allerdings gab es da ein paar Hetzer, die waren eiskalt. Hätte er nicht die Hilfe seines Schwagers gehabt, säße er womöglich gerade im Panzer oder er würde Artillerie geschütze nachladen oder einsam über einem russischen Sumpf wachen.
Auf dem Gransauplatz beim Stumpf des früheren Reiterdenkmals stand eine Menschenmenge zusammen. Der Platz sah seltsam nackt aus ohne Denkmal. Völlig umsonst hatte man es eingeschmolzen, es war nur mit Kupfer überzogen gewesen.
Pimpfe und Jungmädel sangen »Nun trag die Trommel vor uns her«. Natürlich, sie nahmen die Zehnjährigen ins Jungvolk auf, zu Ehren des Führers am Tag vor dessen Geburtstag.
Die letzte Liedzeile verhallte, und ein Redner brüllte: »Denkt immer daran: Ein Deutschland der Kraft, der Ehre, der Ordnung und der Treue kann nur dann bestehen, wenn diese Tugenden auch schon von den Jungen und Mädels gelebt werden. Die Größe unseres Reiches hat in der Disziplin der Jugend ihre Wurzel. Ihr seid es, die alle Wünsche und Erwartungen des Führers für ein kommendes Deutschland zur Erfüllung bringen werden!«
Der Redner trug die schwarze SS -Uniform, Georg kannte ihn nicht, er musste aus einem anderen Landkreis herangekarrt worden sein. Der SS -Mann verkündete: »Die Schwertworte des Jungvolks heißen: Pimpfe sind hart, schweigsam und treu. Pimpfe sind Kameraden! Der Pimpfe Höchstes ist die Ehre!« Nach einem Blick auf seinen Zettel rief er: »Die Leitsätze der Jungmädel lauten: Jungmädel, sei Kamerad, sei treu, gehorsam, tapfer und verschwiegen! Jungmädel, wahre deine Ehre!«
Nun nannten die HJ -Führer nacheinander jedes der Kinder beim Namen und nahmen es durch Handschlag auf. Die Kleinen waren sichtlich stolz. Endlich durften sie die Uniform tragen.
War das nicht Siegfried? Sein Neffe schleppte eine Pauke, ein riesiges Teil mit schwarzen Flammenzungen auf weißem Grund. Gleich würde er mit dem Fanfarenzug marschieren, ernst und grimmig seine Pauke schlagen und sich vermutlich fühlen wie ein Ritterkreuzträger. Kam ihm so vor, als hätte Siegfried gerade erst sprechen gelernt, und nun wurde er schon ins Jungvolk aufgenommen. Der Junge erkannte ihn und winkte. Er strahlte über das ganze Gesicht.
Würden die nächsten vier Jahre auch so schnell vergehen? Würden sie im Handumdrehen wieder hier stehen und Siegfried in die Hitlerjugend aufnehmen?
Hitlerjugend.
Was passierte eigentlich, wenn Hitler einmal starb? Hieß es dann Müllerjugend, nach seinem Nachfolger? Oder Brinkschultejugend?
Was sie machten, wirkte auf viele harmlos: Zelten um ein Lagerfeuer herum, Nachtmärsche, Geländespiele, das stärkte den Gruppenzusammenhalt. Und die Jugendlichen übten Eigenverantwortlichkeit, sie waren in der Hitlerjugend ohne die Erwachsenen unterwegs, »Jugend von Jugend geführt«, das machte für sie sicherlich einen beträchtlichen Teil des Reizes aus.
Meine Güte, der kleine Siegfried, da lief er mit der Trommel und war schon zehn. Die Zeit war wie ein Rausch, eine wilde Rennfahrt. Wenn man nicht aufpasste, war das Leben im Handumdrehen vorbei. Ich bin einunddreißig, dachte er, und immer noch nicht verheiratet. Wollte ich nicht spätestens mit Mitte zwanzig eine Familie gegründet haben?
Die Menschenmenge um ihn herum machte ihm umso schmerzhafter bewusst, dass er allein war. Allein wohnte. Allein aß. Allein den Völkischen Beobachter und Das Reich las, ohne jemanden, dem er einen guten oder miserablen Artikel zeigen konnte.
Er verließ den Platz, ließ sich bei Röslers etwas Quark in Zeitungspapier einwickeln, kaufte ein Päckchen Kunsthonig und zwei Brote und wartete, während die Verkäuferin die Marken abschnitt. Nebenan kaufte er ein Pfund Ersatzkaffee, für echten Kaffee reichte sein Lohn nicht mehr aus.
7
Auf der Mauer der Möhnetalsperre waren die Flakhelfer und Richtkanoniere angetreten. Freudige Aufregung war ihnen in die Gesichter geschrieben: Heute stand eine Zielübung auf dem Programm. »Ich weiß genau, dass ihr unseren Stützpunkt ›Flaksanatorium Möhnesee‹ nennt.« Der Batteriechef, Leutnant Jörg Widmann, musterte sie streng. »Wir liegen idyllisch und sind bisher von Angriffen verschont geblieben. Sollten die Feindmächte
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