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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Blut, das in ihrem Ohr rauschte. Die Kopfhaut pulsierte vor Schmerz. Was sollte sie tun, wenn Plöger wiederkam, irgendwann in der Nacht? Sie konnte schreien, doch selbst wenn jemand sie hörte, was zählten die Hilfeschreie einer Ukrainerin in diesem Lager?
    Nadjeschka tastete die Wände ab. Sie waren kalt und feucht. Immer wieder ging sie den Raum ab, die Hand an der Mauer. Wie lange würde sie hier eingesperrt bleiben? Man erwartete scheinbar, dass sie auf dem nackten Boden schlief. das Verlies war leer, der Boden sauber gefegt. Aber wie konnte sie schlafen, wenn sie immer damit rechnen musste, dass der Wachmann sie aufsuchte!
    Sie würgte an Tränen. Dieser gemeine Hund hatte gelogen. Er freute sich dort draußen an dem Gedanken, dass sie Stunde um Stunde allein im Kellerloch saß und fror. O lieber Gott, hilf, dass er nicht zu mir herunterkommt.
    Um das Zittern zu bekämpfen, rieb sie sich die Oberarme. »Bitte, bitte, lass ihn mir nichts antun. Lass mich lebendig wieder aus diesem Loch herauskommen.« Sie schmeckte ihre Tränen und holte tief Luft. Sie sollte an zu Hause denken, das würde sie beruhigen. Als wäre es ein Zauber, der sie beschützen könnte, summte sie eine Melodie aus ihrer Kindheit. Die Töne legten sich mit ihrer Schlichtheit tröstend um ihre wunde Seele.
    Georg mochte die Verwaltungsbaracke nicht. Nach einem Regenschauer roch sie tagelang wie ein nasser alter Teppich, und die sanitären Anlagen glichen einer Zugtoilette in der dritten Klasse. Es war jedoch unnütz, sich darüber zu ärgern. Er setzte die Hände wieder auf die Tastatur der alten Schreibmaschine und tippte:
    weshalb die schwere körperliche Arbeit eine höhere amtliche Zuteilung an Kartoffeln für die Ostarbeiter erfordert. Ich möchte die Deutsche Arbeitsfront bitten, sich um zusätzlich 3 kg Kartoffeln pro Person und Woche
    Er sah hoch und fuhr vor Schreck zusammen. Oksana stand vor ihm. »Kannst du nicht klopfen?«
    »Bitte verzeihen Sie, Herr Hartmann, ich hab geklopft, aber Sie haben es nicht gehört.«
    Kein Wunder bei dem Lärm, den die Schreibmaschine machte. »Was gibt’s?«
    »Ich bin wegen Nadjeschka hier.«
    »Von wem redest du?« Natürlich wusste er genau, wen sie meinte. Allerdings fand er es ungehörig, dass er sich den Namen der Ukrainerin so schnell eingeprägt hatte. Besser, man merkte ihm die Gedanken nicht an, die er sich über die junge Frau machte.
    »Das Mädchen, das Sie in Einzelhaft gesteckt haben.«
    »Sie gehört zu deiner Stube, richtig?«
    »Bitte seien Sie nicht so streng zu ihr. Der Wachmann …« Sie zögerte.
    »Du meinst Plöger. Wenn es Beschwerden gibt, dann über ihn.«
    »Ja, Herrn Plöger meine ich. Er hat nicht die Wahrheit gesagt.«
    Sie war mutig, sich gegen einen Deutschen zu stellen. Oksana war eine gute Mutter für ihre Anbefohlenen. »Willst du behaupten, dass er lügt?«
    »Nein, auf keinen Fall.« Ihr Blick irrte durch das Büro. »Es ist nur, Nadjeschka hat ihm nicht widersprochen, als er sie aufgefordert hat, die Baracke zu fegen. Das hätte sie nie gewagt.«
    »Warum sollte er das erfinden?«
    Sie flüsterte: »Er wollte ihr wehtun.«
    »Geh zurück in die Küchenbaracke. Ich kümmere mich darum.«
    Eilig machte sie kehrt und verließ das Büro.
    Er seufzte. Dieser Plöger log ihm frech ins Gesicht. Aber was konnte er tun? Die Deutsche Arbeitsfront stellte das Wachpersonal ein, er musste froh sein, dass ihm fünf Männer zugeteilt worden waren, wo sie doch jeden Mann brauchten. Er würde ihm eine Rüge erteilen, und dann ging es weiter wie zuvor.
    Georg stutzte. Sang da jemand? Er saß still auf seinem Stuhl und lauschte. Das musste Nadjeschka sein. Ihre Stimme drang aus dem Keller zu ihm herauf.
    Obwohl er das Lied nicht kannte, rührte es ihn. Fremd und traurig klang es. Fast schämte er sich, dass er sie belauschte, als würde er auf diese Weise einen ungehörigen Einblick in ihr Herz nehmen.
    Nach einer langen Minute stand er auf, verließ das Büro und öffnete draußen das Vorhängeschloss des Vorratskellers. Er stieg die Stufen hinab. Nadjeschka verstummte. Als er die Zellentür öffnete und hineinleuchtete, wich das Mädchen zur hinteren Wand zurück.
    »Du musst keine Angst vor mir haben.«
    »Wer sind Sie?« Die Ukrainerin hielt sich die Hand vor die Augen, weil das Licht blendete.
    »Georg Hartmann, der Lagerführer.« Er nahm die Lampe herunter. »Gehen wir hinauf in mein Büro.«
    Er ließ die Tür offen stehen und stieg die Treppe hoch. Nadjeschka folgte ihm

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