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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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aber einen Angriff auf diese Mauer fliegen, und ihr versagt, dann sterben nicht nur Hunderte Menschen, nein, es kann außerdem eine verhängnisvolle Wende im Krieg bedeuten. Schütte, wie viele Wasserkraftwerke liegen zwischen der Möhnetalsperre und Mülheim?«
    »Dreizehn, Herr Leutnant.«
    »Bregel, Gesamtarbeitsleistung!«
    »Zweihundertfünfzigtausend Kilowatt, Herr Leutnant.«
    »Korrekt. Noch einmal Bregel: Was würde eine Flutkatastrophe anrichten?«
    »Durch eine Flutkatastrophe würden sie zerstört werden oder zumindest verschlammen, Herr Leutnant. Die Hochöfen, Kokereien und Bergwerke der Rüstungsindustrie im Ruhrgebiet brauchen den geregelten Wasserfluss und den Strom.«
    »Die Chemiewerke«, sagte Schütte vor.
    Bregel ergänzte rasch: »Und die Chemiewerke. Die auch.«
    Leutnant Jörg Widmann war guter Stimmung und überging die Ungenauigkeit. »Ihr tragt eine große Verantwortung«, sagte er. »Ich will heute Leistung sehen!«
    Die Flaksoldaten nahmen Haltung an.
    »Abmarsch, an die Kanonen!«
    Sie rannten zu ihren Flugabwehrkanonen auf den Schiebertürmen der Sperrmauer, und jeder besetzte seine Position. Leutnant Widmann gab ein Flaggensignal. Daraufhin stiegen von zwei Booten auf dem Möhnesee gelbe Papierballons auf. Die Flugabwehrkanonen richteten sich nach ihnen aus.
    Er brüllte: »Feuer!«
    Die Flak böllerte dumpf, die Geschütze spuckten grüne und rote Fäden. Sie schossen an den Ballons vorbei. Die Flakhelfer sagten den Richtkanonieren die Korrekturen an. Wieder griff die Leuchtspurmunition nach den Ballons. Endlich fingen die ersten Feuer.
    Immer mehr Ballons erwischten sie. Diejenigen, die entkommen waren, zogen höher und höher in den Frühlingshimmel hinauf und wehten wie zum Hohn über der Talsperre und das Ausgleichsbecken dahinter. Dort oben konnten sie nicht mehr abgeschossen werden, die Kanonen auf den Plattformen der kupfernen Dächer ließen sich nur zum See hin ausrichten.
    Friedlich zogen die gelben Ballons das Tal entlang, flogen über Günne und Niederense hinweg, die Möhne entlang bis nach Neheim. Sie schwebten über die kleine Stadt mit ihren Fachwerkhäusern und den Fabriken.
    Leutnant Widmann sah ihnen missmutig nach. Die Trefferquote war zweifellos verbesserungsfähig.
    Vor dem italienischen Eissalon Dolomiti hatte sich eine Schlange von Kindern gebildet. Sie hielten jedes fünf Pfennig in der Hand und warteten geduldig darauf, dass sie an die Reihe kamen. Weil der Führer vor Jahren ein Bündnis mit Mussolini geschlossen hatte, gab es italienisches Eis im Großdeutschen Reich, und dieses Jahr waren als neue Ge schmacksrichtungen Nuss und Zitrone hinzugekommen. Aber als die gelben Ballons am Himmel erschienen, vergaßen die Kinder ihr Eis, sie zeigten zum Himmel und wunderten sich über die Flugobjekte.
    Auf dem Hof der Volksschule schlugen zwei Mädchen ein Seil. Ihre Freundinnen hüpften darüber. Geschickt sprangen sie in den Schlagkreis, ohne dass das Seilschlagen unterbrochen werden musste, hüpften eine Weile mit den anderen, und sprangen dann wieder aus dem Schlagkreis heraus.
    Da erlahmte das Seil. Die Mädchen staunten zum blauen Frühlingshimmel hinauf und folgten mit den Blicken dem Flug der Ballons.
    Im Lager auf den Möhnewiesen hatten sich die sieben Neuankömmlinge in die Küchenbaracke gesetzt und schälten Kartoffeln. Stöffgen, der Koch, hackte vor der Tür Holz für das Kochfeuer. Man hörte drinnen die Beilschläge.
    »Das stinkt erbärmlich!« Nadjeschka wandte das Gesicht ab. »Kannst du die Seife nicht draußen kochen?«
    Oksana lachte. »Trag du mir den Dreihundert-Liter-Kessel, dann mach ich das gerne.« Sie rührte den Schweinekadaver um. »Am Ende bleibt nur Seife übrig, du wirst sehen. Der Bodensatz ist einfach Seife.«
    Ätzende Schwaden wehten aus dem Kessel herüber. Nadjeschka stand auf und ging zur Tür, um Luft zu schnappen. Gelbe Ballons flogen am Himmel vorüber. Wahrscheinlich feierten sie im Ort. Der Krieg zerriss die Welt, aber die Deutschen vergnügten sich. Sie keuchte: »Ich versprech dir, diese Seife verwende ich nicht. Ich hab die Schlachterabfälle gesehen. Ich müsste immer an den Kadaver denken, wenn ich mich mit der Seife wasche.«
    »Du wirst sie verwenden.«
    »Ach ja? Um was wetten wir? Eine Scheibe Brot?«
    Oksanas Augen blitzten siegesgewiss. »Einverstanden. Schlag ein.«
    Nadjeschka gab ihr die Hand. »Du hast soeben eine gute Scheibe Brot verloren. Ich rühre deine ekelhafte Seife nicht an.«
    »Die Milben

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