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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Unterrichtsstoff nur klug umschreiben bei den Meldungen an die Schulbehörde, dann würde immer noch einiges möglich sein. Man durfte die Kinder doch nicht völlig der nationalsozialistischen Indoktrination unterwerfen, sie mussten mündig bleiben, sich bilden und lernen, selbst Entscheidungen zu treffen.
    Als es endlich klingelte, stand er auf und öffnete die Tür. Doch es war nicht der freundliche Postbote, mit dem er gerechnet hatte. Ein bulliger Mann mit Schweinsäuglein und Schnauzbart stand im Treppenhaus. Das Parteiabzeichen blinkte auf seinem Revers, eine stumme Anklage gegen ihn, Georg, der nicht Mitglied war. Blockwart Wiese. In der Hand hielt er ein Paket. »Hat die Post für Sie gebracht«, sagte er.
    Der Bote war also schon da gewesen. Warum musste die Post ausgerechnet heute eine halbe Stunde zu früh kommen?
    Er streckte die Hände nach dem Paket aus.
    Aber Wiese gab es ihm nicht, sondern wog es genüsslich im Arm. »Ganz schön schwer. Was lassen Sie sich da schicken?«
    Das geht Sie nichts an, hätte er am liebsten geantwortet. Nur kam man um den Blockwart nicht herum, er verteilte die Lebensmittelkarten. Zudem war Georg davon überzeugt, dass Wiese eine Kartei führte über die Haushalte, die er zu betreuen hatte, und alles notierte: Wer sich erst nach dem Flaggengesetz von 1935 eine Hakenkreuzfahne angeschafft hatte, wer sich unzufrieden über die Regierung äußerte. Er durfte ihm keinen Anlass liefern, seine Post genauer zu kontrollieren. »Bücher«, sagte er.
    »Politisches?«
    Der Treppenterrier witterte Blut. »Sie wissen doch, ich habe Deutsch unterrichtet. Ich lese gern Romane. Sie können sich einen ausleihen, wenn Sie möchten.«
    »Nicht nötig. Ich lese keine Romane.« Mit einem Anflug von Verachtung überreichte er Georg das Paket, doch die Forschheit wirkte aufgesetzt – ganz so, als müsse Wiese sich selbst etwas beweisen. »Denken Sie dran, diese Woche sammle ich für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Wäre schön, wenn ich Sie zur Abwechslung mal antreffe.« Er machte kehrt und ging die Treppe hinunter.
    Georg schloss die Tür. Er stellte das Paket auf den Küchentisch und schnitt das braune Packpapier herunter. Sorgfältig faltete er es zusammen. Er öffnete den Karton und nahm eines der Bücher heraus. Das war knapp gewesen. Hätte Wiese tatsächlich einen Roman haben wollen, hätte er rasch festgestellt, dass er diesen Text gar nicht zu lesen vermochte
    Heute ließ er die Bücher besser zu Hause. Vielleicht ging er noch etwas einkaufen, damit es einen Grund für seinen freien Vormittag gab. Der Blockwart lauerte bestimmt hinter der Gardine und wunderte sich, dass Georg nicht in der Verwaltungsbaracke unten im Lager saß. Er legte das Buch zurück in den Karton und stellte ihn unter den Tisch. Nach kurzem Nachdenken nahm er das Einkaufsnetz vom Haken und zog sich den Mantel an.
    Am Straßenrand grünten bereits die Birken, und in den Vorgärten blühten Fliederbüsche. Die Vögel pfiffen in den Bäumen. Sie waren so schmächtig, kaum eine Handvoll Federn und Knochen und ein dünner Körper, aber sie sangen mit Kraft, ohne Hemmungen, mutig in den Tag.
    Obwohl es Montagmorgen war, flanierten etliche Frauen und Männer in den Straßen. Seit die Großstädte häufig Bombenalarm hatten, kamen Leute aus Köln und anderen Städten nach Neheim, um sich bei Verwandten von den Nächten im Luftschutzkeller zu erholen. Die meisten schwatzten fröhlich und genossen den milden Frühlingswind. Er hörte jemanden schwärmen: »Ist ja ein richtiges Hitlerwetter heute!«
    In der Alten Ruhr quakten die Grasfrösche, und blaue Korn blumenlibellen schwirrten über das Wasser. Morgen wurde Adolf Hitler vierundfünfzig Jahre alt. Sonst war es zum Führergeburtstag meist noch kalt und regnerisch gewesen, dieses Jahr hingegen besaß die Sonne fast schon sommerliche Kraft. Sie wärmte Georg das Gesicht und den Rücken. Jetzt erst fiel ihm auf, dass alle anderen keinen Mantel trugen. Er war wieder einmal falsch angezogen, Eva hätte ihn schön ausgelacht. Hoffentlich begegnete er ihr nicht. Sie hatte diese neue Stelle als Koordinatorin für das Rassenpolitische Amt. Wann begann da ihr Arbeitstag?
    Er zog den Mantel aus. Eine junge Frau grüßte freundlich: »Guten Tag, Herr Hartmann!«
    Er grüßte zurück. Das Gesicht kannte er, nur der Name war ihm entfallen. Sie musste aus seinem ersten Jahrgang sein, Auguste oder Hilde, wie hatte sie geheißen? Auch das sollte er wieder üben: sich rasch

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