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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Eva gar nicht mehr? Ich finde, das junge Ding könnte Ihnen ruhig zur Hand gehen.«
    Daher wehte also der Wind. Sie wollte ihre Neugier befriedigen.
    »Sie kommt nicht mehr, Frau Maier, und es ist mir ganz recht so«, sagte er.
    »Wie Sie meinen. Ich will mich ja nicht in Ihre Angelegenheiten mischen. So eine wie die Eva, die gibt’s nicht noch einmal! Und Sie werden auch nicht jünger, Herr Hartmann. Aber das ist Ihre Sache.« Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, als erwarte sie eine Entschuldigung an das gesamte weibliche Geschlecht, die er stellvertretend an sie richten sollte.
    Um auf ein anderes Thema zu lenken, fragte er sie nach ihrem Sohn Matthias, der letztes Jahr einberufen worden war. Er erfuhr, dass er vor neun Tagen zum letzten Mal geschrieben und dass er bei seinen Vorgesetzten um Heimaturlaub gebeten habe. Georg verabschiedete sich, prüfte auf dem Weg mit dem Finger, ob die Blumenbeete des Vorgartens feucht genug waren, und kehrte ins Haus zurück.
    Oben klemmte er sich den leeren Wäschekorb unter den Arm, schloss die Wohnungstür auf und ging hinein. Er stellte den Korb weg. Steckte sich drei Taschentücher ein, die noch seine Großmutter bestickt hatte. Gründlich wusch er sich die Hände, um die Arbeiterinnen im Lager nicht anzustecken. Er holte das Paket mit den Büchern unter dem Küchentisch hervor. Einige Wochenzeitungen legte er obenauf, außerdem den Brief vom Arbeitsamt mit den neuen Ausweisen. Er verschloss den Karton wieder und trug ihn hinaus.
    In den Vorgärten summten Bienen um die blühenden Johannisbeersträucher. Die untergehende Sonne schien warm auf die Aprikosenbäumchen und steingepflasterten Gehwege. Der Karton wog schwer, bald musste er ihn auf die linke Seite wechseln, dann trug er ihn vor der Brust, schließlich wieder rechts.
    Ein Kind, das Eis schleckte, passierte ihn. Sehnsüchtig sah er auf die Eistüte in den kleinen Händen.
    Pass auf, wo du hinläufst, ermahnte er sich. Wenn du stolperst und das Paket platzt auf, kann’s dich das Leben kosten. Schwitzend schleppte er den Karton weiter.
    Die Torwachen grüßten ihn und ließen ihn herein. Am besten fing er bei den Frauen von Trögelkind an, sie hatten ihren ersten Fabriktag hinter sich und brauchten etwas, das sie auf andere Gedanken brachte. Außerdem musste er etwas unternehmen, damit die kluge Nadjeschka ihre Zeit nicht nur mit geisttötender, stupider Arbeit vergeudete.
    Er ging durch den langen Flur der Baracke. Hinter jeder Tür schnatterten die Frauen. Die Zeit nach dem Abendessen war ihre einzige freie Stunde am Tag, wenn sie nicht gerade in der Küche gebraucht wurden. Sie nutzten sie, um sich ausgiebig auszutauschen.
    Georg klopfte an die Tür von Oksanas Stube. Er hielt es für eine Unsitte, dass die Wächter unangemeldet in die Räume der Frauen hineinplatzten; der Anstand verlangte, dass man ihnen Gelegenheit gab, sich herzurichten. Wieder und wieder hatte er es den Wachen gesagt.
    Die Tür öffnete sich. »Herr Hartmann.« Oksana empfing ihn lächelnd. Überall auf den Betten saßen sie, zu zweit, zu dritt. Nur Nadjeschka saß allein. Vermutlich hatte sich Oksana mit ihr unterhalten. Das Mädchen sah furchtbar aus, die Haare zerzaust, die Haut schwefelgelb. Ihr Blick war so stumpf, als habe sie schon hundert Tage in dieser Fabrik gelitten.
    Er stellte den Karton auf dem Boden ab und sagte: »Ich weiß, ich störe euch bei euren Gesprächen. Ihr seid müde, auch das weiß ich. Aber vergesst neben euren Händen nicht euren Kopf. Irgendwann ist der Krieg zu Ende, und meine Landsleute kehren von der Front zurück und nehmen wieder ihre Plätze in der Fabrik ein. Dann müsst ihr was aus eurem Leben machen.«
    Verdutzt sah Nadjeschka dem Lagerführer zu. Was brachte er ihnen da? Und wieso kam er selbst, statt einen seiner Handlanger zu schicken? Er holte einen Umschlag aus dem Karton und angelte kleine Hefte daraus hervor. Eines davon drückte er ihr in die Hand. Ein Adler mit Hakenkreuz war darauf abgebildet. Deutsches Reich. Arbeitsbuch für Ausländer . Sie klappte das Heftchen auf. Da war ein Foto von ihr eingeklebt, mit geröteter linker Wange. Über ihr Foto war zweifach der Reichsadler gestempelt, als wolle er sie packen und nie wieder freilassen. Arbeitsamt Soest stand rings um jeden Adler auf dem Stempel, und unten rechts im Heft der Tag ihrer Ankunft, der 19. April 1943.
    Der Lagerleiter verteilte Zeitungen. Er legte ihr eine aufs Bett. Ukrainez hieß sie. Die Russinnen bekamen ein Exemplar mit

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