Nachtauge
bisher?«
»Ich hab jahrelang allein gearbeitet, Hans, und es hat immer wunderbar funktioniert. Wir machen uns jeder für sich unsere Gedanken, und dann tragen wir die Ergebnisse zusammen, beim Mittagessen nachher. Haben die Kollegen dir nichts aufgetragen? Kümmere dich besser mal um deine Berichte. Dem Streichholzschachtel-Witzbold komme ich schon auf die Schliche.«
Hans schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Rottländer, das ist doch Ehrensache, dass ich Ihnen helfe! Ich hab Ihnen den Fall eingebrockt, also gehen wir ihn auch gemeinsam an.« Er nahm Platz und dachte nach. »Den Schreibkram kann ich heute Abend nach Dienstschluss erledigen. Ich werde Sie auf keinen Fall mit dieser Arbeit sitzen lassen.«
Kriegte man den nie los? Vermutlich hatte sein junges Leben sonst keinerlei Bedeutung, er versuchte, sich über die Polizeiausbildung Selbstachtung zu verschaffen. Ohne die Mitgliedschaft in der SS hätte der Hanswurst diesen Posten nie bekommen. Und nun erwartete er, sozusagen in einem Schnellkurs zum Kriminalinspektor ausgebildet zu werden, für einen Beruf, der Geduld und Gespür erforderte, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.
Ich kann Gewalttäter einlochen, dachte er, Passfälscher entlarven, aber ich schaffe es nicht, mich gegen einen neunzehnjährigen Wichtigtuer zu wehren. Er seufzte und setzte sich an den Schreibtisch. Neben der neuen Erika-Schreib maschine, die jetzt auch die scharfeckige SS -Type drucken konnte, lag die Streichholzschachtel. Er nahm sie in die Hand, öffnete sie und faltete den Zettel auf. »Er verwendet Durchschlagpapier, die Buchstaben sind unscharf gedruckt. Außerdem ist die untere Kante des Zettels mit einer Schere geschnitten, nicht ganz gerade. Das heißt, er geht systematisch vor, tippt seine Botschaft x-mal auf ein Blatt und fertigt dabei Durchschläge an. Am Ende schneidet er die kleinen Zettel aus und verteilt sie in Streichholzschachteln. Das ist nicht bloß jemand, der sich einen kleinen Scherz erlaubt. Dieser Mann fordert uns heraus. Er stellt sich mit vollem Bewusstsein gegen den Staat.«
Hans’ Gesicht leuchtete auf vor Bewunderung. »Sehen Sie, das möchte ich lernen. Sie werfen einen Blick auf das Beweismaterial, und schon haben Sie tiefgründige Schlüsse über den Täter gezogen.«
»Ich brauche eine Erfrischung. Geh bitte ins Sekretariat und bringe mir eine Tasse Kaffee.«
»Sehr gern, Herr Kriminalinspektor.« Hans stand auf. An der Tür blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und fragte: »Wenn er so viel produziert, wie kommt es, dass wir keine weitere Schachtel gefunden haben?«
Er tastete mit der Zunge nach einem Stück Apfelschale, das zwischen seinen Schneidezähnen hängen geblieben war und ihm schon seit dem Frühstück auf die Nerven fiel. »Vielleicht hat er gerade erst losgelegt. Oder die Finder wollten die Schachteln behalten und haben deshalb nichts gemeldet – Streichhölzer sind Mangelware dieser Tage.«
»Ja, das kann sein.« Hans ging. Mit hochrotem Kopf kam er wieder. »Fingerabdrücke«, stieß er hervor. »Wie konnten wir das vergessen! So kriegen wir ihn!«
»Hol mir endlich den Kaffee! Ich wette zehn Mark, dass wir deine und meine Fingerabdrücke auf der Schachtel finden, und die von Paul, aber keinen einzigen vom Täter. Der Mann ist kein Idiot. Er zieht Handschuhe an.«
»Ach so … Natürlich.«
Als am nächsten Morgen Georgs Wecker schrillte, dröhnte sein Kopf so sehr, dass er meinte, der Schädel würde ihm platzen. Mit Mühe erhob er sich und schlurfte ins Bad. Die Liegestütze und die Kniebeugen erließ er sich für heute. Im Spiegel besah er seine geschwollenen Augen. Obwohl es ihn sehr anstrengte, rührte er mit der Rasierseife Schaum an und pinselte sich den Bart ein. Unrasiert konnte er keinesfalls im Lager erscheinen.
Im Wohnzimmer starrte er eine lange Weile auf den selbst gebastelten Abreißkalender, bevor er die große 20 herunterriss und in den Papierkorb warf. Ein falsches Kalenderblatt bereitete ihm körperliche Schmerzen. Gestern war der Führergeburtstag gewesen, also musste heute der 21. April sein – er hatte nicht wie sonst zuerst auf den Kalender geschaut, sondern war gleich ins Bad gegangen.
Das Durcheinander in seinem Kopf quälte ihn. Hatte er überhaupt schon die Zähne geputzt? Sie fühlten sich rau an. Er ging ins Bad und putzte sie. Das Schütteln und Rucken verstärkte den Kopfschmerz noch.
Zurück im Schlafzimmer nahm er die Uhr vom Nachttisch und sah darauf. Zwanzig vor sechs. Du meine
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