Nachtauge
saßen Widerborstige ein, die Saboteure der neuen Weltordnung. Manchmal verstand er ihre Haltung, wenn er sie verhörte. Es war ja nicht so, als hätte er selbst nie Zweifel gehabt.
Anfangs hatte er die Nazis für ungehobelte Grobiane gehalten. Der »Deutsche Gruß« fiel ihm schwer, kam ihm vor wie der platte Versuch, sich bei den Braunhemden einzuschmeicheln. Aber bald hatte er festgestellt, dass er mehr erreichte bei den Dienststellen, wenn er Briefe mit »Heil Hitler« unterzeichnete. Zahlreiche Amtsposten wurden mit Parteigenossen besetzt, auch ihm selbst blieb nichts anderes übrig, als NSDAP -Mitglied zu werden. Irgendwann kostete ihn der Gruß keine Überwindung mehr. Er wurde Mitglied der SS und wechselte von der Ordnungspolizei zur Gestapo, weil es hier bessere Aufstiegschancen gab. Diesen Schritt hatte er noch nicht bereut.
Die Nationalsozialisten sagten ja vieles, das er unterschreiben konnte, gute, kluge Dinge, und die meinte er eben, wenn er für sie arbeitete, das andere musste er hinnehmen. Welche Partei, welche Gesellschaftsschicht war schon völlig fehlerfrei?
Den Nazis ging es nicht um Geld, sondern um die Wiederherstellung der deutschen Ehre. Das Dritte Reich war lebens bejahend und positiv. Jeder konnte das im Alltag spüren. Dass es die Tradition der englischen Politik war, andere zu täuschen und zu beherrschen, hatte er schon lange gedacht. Und der Bol schewismus der Russen stellte tatsächlich eine Bedrohung für die gesamte Welt dar. Er selbst wäre nicht dafür gewesen, deswegen einen Krieg zu führen, aber Hitler wusste schon, was er tat, er war ein kluger Staatsmann, daran gab es keinen Zweifel.
Hitler brachte Schwung in die Gesellschaft. Allein die Parteitage! Der Fahnenprunk, die Aufmärsche der Gliederungen: Sturmabteilung, Schutzstaffeln, Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps, Hitlerjugend. Die Macht des Nationalsozialis mus war unübersehbar. Niemand konnte dieser geballten Kraft widerstehen. Entweder man machte mit und war auf der Gewinnerseite, oder man ging unter.
Im Flur grüßte er zwei Gestapo-Mitarbeiterinnen. Längst sah man ihn mit Respekt an hier im Haus. Er war jemand, er wurde geschätzt und geachtet. Wie wichtig doch ein gutes Arbeitsklima war.
Hans sagte: »Wussten Sie, dass hinter der Coca-Cola GmbH ein amerikanischer Konzern steckt? Der Feind, sozusagen.«
Da kamen sie wieder, seine Milchbubiweisheiten. »Mag sein, dass der gewöhnliche Arbeiter das nicht weiß, aber mir ist das durchaus bewusst.«
»Und warum unternehmen wir nichts? Ist es nicht Aufgabe der Gestapo, solche Machenschaften aufzudecken? Wir müssen das ganz nach oben melden! Die werben scheinheilig mit ›Mach mal Pause‹, und dabei unterstützt jeder Colatrinker den amerikanischen Kriegsgegner!«
»Wir müssen gar nichts ›ganz nach oben‹ melden.«
Hans schwieg. Nach einer Weile bat er zögerlich: »Klären Sie mich auf, Herr Inspektor?«
»Die Parteileitung hat diese Sache offensichtlich gebilligt, sonst würden nicht jedes Jahr Millionen von Coca-Cola-Flaschen verkauft werden, unter anderem bei der Hitlerjugend und bei Empfängen der Partei. Glaubst du, das würde man wagen, wenn die Führung das nicht genehmigt hätte?«
»Das wäre ja gerade so, als würden die Russen quer übers Schlachtfeld deutsches Bier importieren! Schöpft denn niemand Verdacht? Was, wenn sie uns heimlich vergiften, um den Krieg zu gewinnen? Vorletztes Jahr haben sie dieses neue Getränk eingeführt, diese Fanta. Ich hab mich erkundigt, die Limonade gibt es nur im Großdeutschen Reich. Plötzlich kriegt man kaum noch Cola zu kaufen, überall drehen sie uns das neue Getränk an. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Wenn Fanta ein langsam wirkendes Gift enthält, das die Deutschen wehruntüchtig macht …«
»Denk mal nach. Was ist in Cola enthalten, aber nicht in Limonade?«
»Irgendwas, das nicht mehr nach Deutschland importiert werden kann, wegen des Krieges?«
»Bestandteile der Kolanuss, genau. Deshalb mussten sie im Deutschen Reich etwas Neues erfinden.« Er betrat sein Büro und wollte sich an der Tür umwenden, um Hans zu verabschieden, aber der Assistenzanwärter war fort. Irritiert sah Axel den leeren Flur hinunter.
Hans kam aus dem Konferenzzimmer, einen Stuhl in den Armen. »Ich dachte, damit wir uns zusammensetzen können, um den Partisanenfall genauer zu durchdenken.« Wie selbstverständlich trug er den Stuhl ins Büro. Er setzte ihn neben dem Schreibtisch ab. »Also, was haben wir
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