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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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betrat den Schankraum. Das Lokal war rammelvoll wie immer am Montagabend. Im Laufe der Woche ging den Wirten das Bier aus, denn da es wegen des Krieges kaum etwas ohne Marken gab, bis auf Bier, vertranken die Leute hier ihr Geld. An zwei Tischen spielten sie Skat. Neben bekannten Gesichtern machte Axel auch einige Fremde aus. Einer löffelte ein Eintopfgericht, ein anderer hatte ein mageres Stück Fleisch auf seinem Teller, wohl als Gegenleistung für eine Fünfzig-Gramm-Fleischmarke. Der Duft der Gerichte erinnerte ihn an das Essen, das zu Hause auf ihn wartete. Zeit, dass sie die Sache hinter sich brachten.
    Der Kellner trug auf einem Tablett fünf Bierkrüge durch die Menge. Er trat ihm in den Weg. »Hast du mal einen Moment, Paul.«
    »Natürlich.«
    Axel liebte diesen Respekt in den Gesichtern, diesen Anflug von Angst. Der Kellner begriff sofort, dass er nicht privat hier war, sondern als Arm der Geheimen Staatspolizei. »Ist dir jemand aufgefallen heute, in den letzten zwei Stunden? Einer, der sich verdächtig im Raum umgesehen hat?«
    »Ich würde euch gerne helfen. Ehrlich! Aber du siehst ja, was hier los ist. Ich kann mir geradeso die Bestellungen merken. Ob sich jemand umsieht oder eine Streichholzschachtel auf den Tisch legt, das kann ich nicht im Blick behalten.«
    »Hat er vorhin auch schon behauptet.« Hans zückte Stift und Block. »Jetzt ist Schluss mit den Ausflüchten! Wen wollen Sie schützen? Wer hat an dem Tisch neben der Garderobe gesessen? Was hat er bestellt, wann ist er gekommen, wann ist er gegangen? Hat er Lebensmittelmarken abgegeben?«
    »Weg damit«, sagte Axel ärgerlich. Dieser Assistenzanwärter begriff wirklich gar nichts.
    Hans steckte den Block wieder ein.
    Axel sah sich den Tisch an. »Ich bin sicher, er hat nicht einmal hier gesessen. Er saß woanders, in der anderen Ecke. Hat nur ein Bier getrunken. Irgendwann hat er bezahlt, ist zur Garderobe gegangen und hat im Vorbeigehen die Schachtel auf den Tisch gelegt.«
    »Tut mir leid.« Paul sah ihn mitleidheischend an. »Hier ist so viel Betrieb. Und ein Bier getrunken hat beinahe jeder.«

9
    Licht flammte auf. Schlaftrunken blinzelte Nadjeschka. Es war still im Raum, niemand hatte sich bewegt. Offenbar schalteten sie das Licht von zentraler Stelle ein. Die Lampen sirrten. Schweigend blieben die Frauen in ihren Betten liegen und kosteten die letzten Minuten Ruhe aus. Nadjeschka schob die Hand unter die Matratze und tastete nervös über das Holz. Als sie den Stein fand, nahm sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn fest. Er beruhigte sie.
    Die Tür wurde aufgerissen, und eine Männerstimme brüllte: »Aufstehen!«
    Sie hielt still unter der kratzigen Decke, die Oksana ihr gestern gegeben hatte, und wartete. Doch ringsherum kam Bewegung auf. Dreißig Frauen wälzten sich aus den Betten. Seufzend ließ sie den Stein los und stieg ebenfalls von ihrem Bett hinunter.
    Sie folgte den anderen durch den Flur nach draußen und überquerte den Hof. Der Mond ergoss sein blasses Licht über die Wachtürme und Baracken. Vor der Waschbaracke staute sich eine Traube von Frauen.
    »Wie spät ist es?«, flüsterte sie.
    »Frag nicht«, brummte Oksana.
    Immer mehr Frauen kamen aus den Baracken. Oksana nahm Nadjeschka bei der Hand und drängte voran in den Waschraum. Über einer Blechrinne hingen in einer langen Reihe Wasserhähne, dort wuschen sich die Frauen im Schein weniger nackter Glühbirnen. Als Nadjeschka an die Reihe kam, schraubte sie den Hahn auf und hielt die Hände in das eisige Wasser. Hastig wusch sie sich damit das Gesicht. Sie sah sich nach einem Handtuch um, fand aber keines.
    Oksana reichte ihr einen braunen Klumpen Seife.
    »Du hast gewonnen«, sagte sie und nahm ihn. Sie wusch sich die Hände und die Arme – das Gesicht mit dem stinkenden Zeug einzureiben, brachte sie nicht über sich. Triefend machte sie Platz für die Nächste.
    Draußen auf dem Hof kühlte ihr nasses Gesicht empfindlich aus. Sie wischte es mit der Jacke ab, die sie gestern erhalten hatte. Die weißen Buchstaben » OST « auf der rechten Brusttasche waren selbst bei Nacht zu sehen.
    Als sie wieder in der Stube anlangten, fragte Oksana: »Hast du noch was von deinem Brot übrig?«
    »Ist alles aufgegessen. Ich bezahle dir die Wette nächste Woche.«
    »Vergiss die Wette.« Oksana brach ein Stück von ihrem Brotlaib ab. »Hier. Du hast einen schweren Tag zu überstehen.«
    »Danke. Das kriegst du wieder, wirklich.« Hungrig biss Nadjeschka in das

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