Nachtauge
Es kamen Hülsen, die gefüllt und gepresst werden wollten, und noch mehr Hülsen, in einer endlosen Reihe. Die Hitze trieb ihr den Schweiß aus den Poren, und bald stand eine Schwefelwolke über der Maschine. Sie hatte keine andere Wahl, als das giftige Zeug einzuatmen.
Der Rücken tat ihr weh vom Herüberheben. Die Augen brannten. Mühsam blinzelte sie, um die Maschine im Blick zu behalten. Wo würden diese Geschosse abgefeuert werden? Knallten sie damit in der Heimat ihre Freunde ab – jene, die sich nicht bereit erklärt hatten, an der Seite der Deutschen zu kämpfen? Sie ging in Gedanken die jungen Männer durch, die auf russischer Seite standen. Dima, der Schlosser. Aleksander, dem die Mädchen nachliefen. Iwan und sein jüngerer Bruder Wlad.
Sie hatte das Gefühl, dass das Förderband eine Winzigkeit schneller rollte. Jedes Mal, wenn sie sich zur Maschine hindrehte, erhöhten sie die Geschwindigkeit. Auch die Geschosse wurden von Mal zu Mal schwerer. Hört auf, wollte sie sagen. Bitte! Ihre Arme waren aus Blei, die Schultern wurden steif. Sie konnte nicht mehr, keine einzige Ladung Hülsen würde sie mehr anheben können. Doch nach den Hülsen, die jetzt vor ihr auf dem Band lagen, kamen tausend weitere. Und sie hob sie alle herüber, wie man ihr befohlen hatte.
Ein Klingeln ertönte. Das Band blieb stehen. Vor ihren Augen tanzten die Hülsen weiter. Sie stützte sich an der Maschine ab und bog den schmerzenden Rücken. Die Arbeiter trotteten davon. Nadjeschka hielt sich an die Frauen, die mit ihr hergekommen waren. Aufenthaltsraum für fremdvölkische Arbeiter stand über einer Tür angeschrieben. Sie schoben sich in den Pausenraum. Jemand füllte aus einem Kessel Suppe in kleine Näpfe. Auch sie erhielt einen dampfenden Napf und einen Blechlöffel. Sie kostete. Die Suppe war sauer! Schäumende, saure Steckrübensuppe, dass es einen in die Zunge stach. Sie empfand Widerwillen, und doch aß sie vor Hunger die Schale leer. Sie spülte den Ekel mit Tee herunter. »Wozu haben wir gestern Kartoffeln geschält?«, fragte sie Oksana.
»Sei froh, dass es mal einen Tag keine Kartoffeln gibt.«
»Aber wozu haben wir sie geschält, wenn wir sie nicht zum Essen bekommen?«
»Die anderen Fabriken werden die Kartoffeln abbekommen haben. Diesmal sind wir eben mit den Steckrüben dran.« Es klang abgestumpft und müde.
Sie musterte Oksana, die erschlaffte Brust, die ersten grauen Strähnen an den Schläfen. »Wie lange bist du schon hier?«
»Seit einem Dreivierteljahr. Ich hab viel gesehen, glaub mir. Ein Jahr im Lager zählt wie zehn Jahre zu Hause.«
Nadjeschka wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Ein gelber Schwefelfleck entstand auf dem Stoff. Sie tastete nach ihrer Wange. Der Knochen tat weh, sobald sie daran rührte. »Hast du nie versucht zu fliehen?«
»Bist du wahnsinnig?« Oksana sah sich um. Sie zog Nadjeschka am Arm näher und flüsterte: »Sag nie wieder so etwas, hast du mich verstanden? Ich hab keine Lust, im Straflager zu landen.«
Nachdem er um siebzehn Uhr die Nachrichten gehört hatte, schaltete Georg das Radio aus. Er nieste, einmal, zweimal. Den ganzen Tag schon tat ihm das Schlucken weh. Aber er durfte sich nicht gehen lassen, dadurch wurde die Erkältung bloß schlimmer.
Er setzte den Wasserkessel auf und stellte die Gasflamme auf die höchste Stufe. Als das Wasser kochte, machte er sich daran, seine Kleider zu waschen. Sämtliche Wäschestücke arbeitete er ab, bis ihm die Fingerknöchel schmerzten. Schließlich stemmte er den Korb mit der nassen Wäsche hoch, angelte im Vorbeigehen den Schlüsselbund vom Haken und brachte die Wäsche hinaus ins Freie. Auf der Wiese hinter dem Haus hängte er die Hemden auf die Leine. Auch die Socken klammerte er an.
Frau Maier, die Nachbarin, kam herbei und bot ihm ihre Hilfe an, sie musste ihn durchs Fenster beobachtet haben. »Ich kann Ihnen das auch schnell machen, Herr Hartmann.«
»Danke. Ich bin gleich fertig.« Nun war er froh, dass er die Unterhosen oben gelassen hatte. Irgendwie war es ihm peinlich, wenn seine Unterhosen auf dem Hof hingen. Er ließ sie lieber im Badezimmer trocknen.
Frau Maier blieb hartnäckig. »Sie können mir gern Ihre Wäsche geben. Ich wasch so viel für die Familie, da fallen ein paar zusätzliche Hemden nicht auf.«
»Ich komme zurecht. Vielen Dank, Frau Maier.« Jeder Satz, den er sagte, tat ihm in der kratzenden Kehle weh.
»Das ist doch nichts für einen Mann, die Wäsche zu waschen. Kommt denn die
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