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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Brot und trank dünnen Ersatzkaffee aus dem Becher. Ihr knurrte kräftig der Magen. »Ich tu doch gar nichts, und trotzdem bin ich so hungrig«, sagte sie unter dem Kauen.
    »Das liegt am schlechten Brot.« Oksana strich sich etwas Fett darauf, indem sie ihren Fettklumpen darüber rieb. »Sie häckseln Laub rein, um Mehl zu sparen, und nennen das Ganze ›Russenbrot‹. Erst macht’s einen vollen Bauch, aber am Ende bist du trotzdem nicht satt.« Sie hielt den Fettklumpen hoch. »Und das bisschen Butter, das wir kriegen, ist nicht mal von der Kuh. Es wird synthetisch hergestellt. Margarine.«
    »Warum unternimmt Herr Hartmann nichts dagegen?«
    »Der tut schon viel mehr, als er eigentlich dürfte.«
    Nadjeschka überlegte, ob sie Oksana von dem Gespräch mit ihm erzählen sollte. Irgendwie erschien es ihr nicht passend. Er hatte so freundlich mit ihr gesprochen! Dabei hielt er sie doch alle hier gefangen. Sicher wusste er auch vom »Russenbrot«. Wie konnte ein und derselbe Mann klug und humorvoll sein und mit ihr lachen und zugleich auf gnadenlose, brutale Art ein Gefangenenlager betreiben?
    Die Tür flog auf. Plöger schnauzte: »Aufstellen zum Ausmarsch!«
    Als sie auf dem Hof in einer Reihe angetreten waren, er schien Georg Hartmann auf der Schwelle der Verwaltungsbara cke. Er zog eine Taschenuhr aus der Westentasche, sah prüfend auf das Ziffernblatt und sagte: »Genau sechs Uhr. Sehr schön.«
    »Rechtsum!«, befahl Plöger.
    Sie drehten sich nach rechts. Jetzt standen sie in einer Schlange hintereinander.
    »Kolonne Trögelkind: Vorwärts marsch!«
    Neben ihnen warteten weitere Kolonnen von Frauen, die in anderen Fabriken arbeiteten. Hunderte Frauen füllten den Hof, vielleicht waren es sogar eintausend. Und ausgerechnet ihre Kolonne begleitete Plöger. Tat er es wegen ihr? Gehorsam lief Nadjeschka los. So fühlten sich also Männer, die in der Armee waren und in Reih und Glied gingen. Immerhin, beim Laufen wurde ihr warm.
    Zwei Wehrmachtssoldaten standen vor dem Tor und warteten. Als die Kolonne sie erreicht hatte, liefen sie mit, die Gewehre über die Schultern gehängt. Offenbar hatten sie die Aufgabe, aufzupassen, dass niemand die Flucht ergriff.
    Auf dem Weg zur Fabrik staunte sie: Überall hingen Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern. Waren die Deutschen so begeistert von ihren Kriegserfolgen? Sie fragte Oksana.
    Die drehte sich unterm Laufen kurz um und sagte: »Heute wird der Geburtstag Hitlers gefeiert.«
    Nach einer halben Stunde Fußweg erreichten sie das Werks gelände, gesichtslose Ziegelsteinhallen, doppelt so hoch wie die Lagerhäuser im Hafen von Odessa. Ihre Fensterscheiben waren blind vor Schmutz. An der größten Halle stand in riesigen Lettern angeschrieben: Trögelkind & Winkler.
    Jetzt erst bemerkte Nadjeschka, dass neben dem Tor zum Werksgelände ein Mann an einem Baum hing. Vor Schreck erstarrte sie. Sie wurde von hinten angestoßen, es entstand Unordnung in der Kolonne, wütend eilte einer der beiden Wehrmachtssoldaten heran. »Was ist hier los?«
    »Da hängt jemand«, würgte sie hervor.
    »Blutschande. Der hat sich mit einer von euch eingelassen. Ein Deutscher! Ist gestern bestraft worden.«
    »Und die Frau?«
    »Geh jetzt weiter!«
    »Was ist mit der Frau passiert?«
    »Ist im Konzentrationslager gelandet.«
    Sie konnte nicht hinsehen zum Toten, musste den Kopf abwenden. Dieser Mann hatte eine wie sie geliebt, eine Ostarbeiterin, er war gut zu ihr gewesen. Zum Lohn dafür hatten die Nazis ihn aufgeknüpft.
    Sie betraten eine große, laute Halle. Unzählige Menschen bedienten Maschinen oder schleppten Kisten herum, Deutsche, die hier angestellt waren und mit dem Lohn ihre Familien ernährten.
    Die meisten aus der Ostarbeiterinnenkolonne strebten ziel sicher ihren Plätzen zu, nur die sieben Neuen blieben ratlos stehen. Oksana erklärte einem Meister mit ölverschmierten Händen, dass sie, Nadjeschka, Deutsch verstand. »Komm mit«, sagte er. Sie folgte ihm zu einer Pressmaschine, wo er ihr die Handgriffe erklärte, die sie von nun an ununterbrochen auszuführen hatte. Sie musste mit einem Haltebrett fünf Hülsen vom Förderband nehmen, sie mit Schwefel füllen und auf die Presse legen. Der Meister sagte: »Sieh zu, dass du dich konzentrierst! Die Geschosse wiegen jedes fünf Kilo. Wenn sie dir aus der Hand rutschen, verbrennst du dich. Die sind heiß, um die fünfhundert Grad, da tust du dir höllisch weh. Kriegst du das hin?«
    Zögerlich nickte sie.
    Schon rollte das Förderband an.

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