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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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schwerster Strafen bewusst sein.
    Auf keinen Fall durfte er sich in Nadjeschka verlieben. Die junge Frau war seine Schutzbefohlene! Er konnte als Lagerleiter keine der Ostarbeiterinnen hofieren. Das wäre ja gerade so, als würde sich ein Lehrer an eine Schülerin heranmachen. Dazu die strengen Gesetze der Nationalsozialisten, die beide von ihnen in Gefahr brächten. Schärfte er nicht selbst jeder neu ins Lager gekommenen Frau aus dem Osten ein, dass auf Unzucht mit deutschen Männern der Tod durch den Strang stand?
    Er tippte den Brief zu Ende. Begann das nächste amtliche Schreiben. Er versuchte sich in diese Arbeit hineinzusteigern, damit die Vernunft in ihm die Oberhand gewann. Aber das Kribbeln in seinem Bauch wollte einfach nicht verschwinden, der Gedanke an Nadjeschkas Blick, an ihre Umarmung.
    Liebe ich sie nur, weil sie mich nicht verlassen kann wie Eva? Weil sie auf mich angewiesen ist und ich der Starke sein kann? Sei vorsichtig, Georg, ermahnte er sich. Es darf nicht sein, die Nazis machen kurzen Prozess mit uns.
    Seine Verliebtheit lachte über diese Argumente. Wir finden einen Weg, sagte sie, die Liebe findet immer einen.
    Als die Frauen von der Arbeit heimkehrten, stellte er sich in den Eingang der Bürobaracke. Schon von Weitem sah er Nadjeschkas rote Haare.
    Die Arbeiterinnen kamen durch das Tor. Nadjeschka hielt seinen Blick, lange. Sie lächelte sogar. In seinem ganzen Leben war er nie so glücklich gewesen wie in diesem Moment. Wenn es weiter nichts für ihn gab als einen Blick von ihr am Morgen und einen am Abend, so wollte er damit zufrieden sein.
    Beflügelt, geradezu euphorisch ging er bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Wie konnte er sie besuchen, ohne dass es jemandem auffiel? Eine Kontrolle der Baracken wäre vielleicht eine Möglichkeit. Oder eine besondere Nahrungsration zu Ostern. Immerhin, morgen war Ostersonntag! Der Verzehr von Schokolade war für Nichtarier verboten, und es gab sowieso kaum noch welche. Aber ein Stück Kuchen … Allerdings müsste er, damit es nicht auffiel, Kuchen für sämtliche Insassen beschaffen, und dafür reichte weder sein Geld, noch würde das Wirtschaftsamt die nötigen Lebensmittelkarten herausrücken.
    Er schloss die Haustür auf, schaltete das Flurlicht ein und stieg die Treppen hoch. Auf den letzten Stufen blieb er stehen. Da hatte sich jemand vor seiner Tür auf dem Fußabtreter zusammengekauert. Es war Matthias, die Augen rot geweint, den Mund zu einem bitteren Strich gezogen.
    »Komm mit rein«, sagte Georg wie beiläufig und tat so, als habe er die Tränen nicht gesehen. »Ich hab noch Wurst und Brot, essen wir zusammen!«
    Wortlos folgte ihm der junge Mann in die Wohnung.
    »Weißt du noch«, sagte er in der Küche, »hier haben wir uns die herrlichen Karikaturen von e.o. plauen angesehen, erinnerst du dich, wie wir gelacht haben? Es wird wieder gut werden, Matthias. Der Krieg wird zu Ende gehen, so oder so. Dann machst du deine Ausbildung als Automonteur, lernst ein nettes Mädchen kennen, und die düsteren Jahre geraten in Vergessenheit.«
    Matthias schwieg.
    Er machte ihm ein Wurstbrot zurecht und reichte es ihm. »Hast du Streit gehabt?«
    »Wir kommen nicht mal zum Händewaschen«, sagte der Junge mit Grabesstimme. »Wir gehen von den Toten zum Essen und von da aus wieder ans Gewehr. Man muss sich zwingen, sich zu bewegen, damit man nicht erfriert, so kalt ist es. Ich bin unendlich müde. Die Furche, in der ich stecke und auf den Feind warte, ist wie ein Grab. Ich warte darin, bis es auch mich erwischt.«
    Georg legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe, Matthias.« Vor seinem inneren Auge sah er Szenen aus Im Westen nichts Neues . Das war dieselbe Chimäre, derselbe Krieg, der über die Menschen hinwegfegte und sie zermalmte.
    »Wir kriegen morgens und abends einen Schluck Kaffee und alle zwei Tage hundert Gramm Büchsenfleisch oder eine halbe Dose Ölsardinen. Manchmal etwas Tubenkäse. Das ist alles. Wir haben ständig Hunger. Und die meisten meiner Kameraden hören nichts mehr. Man kann sich nur noch mit Handzeichen verständigen.«
    »Warum hören sie nichts?«
    »Die Granaten. Die zerreißen einem das Trommelfell, wenn sie in der Nähe explodieren. Aber wer taub geworden ist, hört wenigstens nicht mehr das Heulen der Stalinorgeln und die Schreie der Verwundeten.«
    »Hast du deiner Familie von alldem erzählt?«
    Matthias schüttelte den Kopf. »Die würden sich nur Sorgen machen. Besser, sie wissen nicht, wie es uns da

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