Nachtauge
Grenzwachen, oder etwa nicht?«
»Wem glauben Sie mehr – den Feinden, die Deutschland vernichten wollen, oder unseren eigenen Leuten? Die Amerikaner werfen in Italien Spielzeug ab, das mit Sprengstoff gefüllt ist. Die Kinder sammeln es auf und werden verstümmelt. Mit solchen Mitteln kämpfen die! Sogar als Handtasche präparierte Granaten wurden schon gefunden! Jetzt werden Sie wieder denken, das ist nur Propaganda, aber ich traue es denen zu, die sind so verzweifelt, dass ihnen jedes Mittel recht ist.«
Er richtete sich auf. »Matthias, nicht sie sind verzweifelt, sondern wir. Bei Stalingrad haben wir zweihunderttausend Mann verloren!«
»Stalingrad werden wir wieder nehmen, verlassen Sie sich drauf.«
»Die Nachrichten klingen anders. Früher wurden immer die Namen der eroberten Städte genannt, neuerdings wird nur noch von ›Räumen‹ und ›Gebieten‹ gesprochen, von planmäßigen Frontbereinigungen. Es heißt jetzt immer, wir würden unsere Front verkürzen oder den feindlichen Angriffen in beweg licher Abwehr ausweichen. Das ist der Rückzug, oder etwa nicht? Nur das Wort vermeiden sie.«
»Nee, Herr Hartmann, was wir da gerade machen, ist eine Abnutzungsschlacht. Verstehen Sie nicht? Wir setzen eine elastische Abwehrtaktik ein, mit der wir die russischen Armeen nach und nach zerstampfen. Was ist schon das bisschen Gelände, das wir aufgeben! Das holen wir uns nachher alles wieder.«
»Was soll das sein, eine elastische Abwehrtaktik?«
»Wir zermürben sie. Wir weichen ihnen aus und unternehmen dann wieder Gegenstöße.«
»Und wenn die Amerikaner sich nicht auf Bomber beschränken? Wenn sie in Italien anlanden?«
»Das können die nicht. Mit welchen Schiffen denn? Ihre Flotte ist durch Japan gebunden, die Japaner halten sie in Schach. Vor anderthalb Jahren haben wir den Amerikanern den Krieg erklärt. Und was ist seitdem passiert? Nichts. Sie haben sich in Pearl Harbor ihre Flotte von den Japanern zusammenschmeißen lassen, das ist alles.«
Der schlaksige junge Mann war ihm fremd geworden. Das war nicht mehr der Matthias, mit dem er oben in der Küche Streuselkuchen gegessen hatte, damals, als er noch nicht die Stelle am Realgymnasium gehabt hatte, sondern an der Oberschule für Mädchen in Arnsberg Lehrer gewesen war. Und auch nicht mehr der Matthias, mit dem er die Bildergeschichten von Vater und Sohn angeschaut und dabei Tränen gelacht hatte, und der später in seinem Geschichtsunterricht saß. Die Nazis hatten den Jungen umgeformt, hatten ihn hart wie Kruppstahl gemacht und dabei sein junges Herz zerquetscht.
»Herr Hartmann, ich bin bei der Wehrmacht, schon vergessen? Glauben Sie mir, wir werden den Krieg gewinnen. Hitler hat was ganz Neues entwickeln lassen, eine Geheimwaffe. Fernraketen sind das. Die stellen …«
Die Haustür flog auf, und die Kleine von Maiers stürmte heraus. Sie schrie vor Glück, sprang ihrem Bruder an den Hals. Sie kniete sich auf seinen Schoß und nahm sein Gesicht in die kleinen Hände.
War er noch gar nicht zu Hause gewesen? Georg wunderte sich darüber. Hatte er sich etwa gefürchtet vor dem Heimkehren? Wer wusste schon, wie es hinter diesem ganzen Soldatenpathos wirklich aussah.
»Hallo Schwesterherz.« Ein schüchternes Lächeln erschien auf Matthias’ Gesicht.
Georg stand auf und sagte: »Ich lass euch mal allein. Muss noch viel Schreibkram erledigen im Barackenlager. Matthias, klingel doch heute Abend bei mir, wenn du Lust hast.«
Später saß er im Büro. Er tippte einen Beschwerdebrief an das Marienhospital in Arnsberg. Wozu zahlte man für jede Ostarbeiterin in die Allgemeine Ortskrankenkasse ein, wenn dann kein Arzt für sie zur Verfügung stand? Er holte sich das Merkblatt »Über die allgemeinen Grundsätze für die Behandlung der im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte« vom Reichssicherheitshauptamt. Dann tippte er:
Laut Abschnitt 3 e) hat jeder ausländische Arbeiter Anrecht auf eine wirksame gesundheitliche Betreuung. Die ärztliche Versorgung soll durch Lager-, Revier- oder Kassenärzte sichergestellt werden.
Sein Blick blieb an einem anderen Absatz des Merkblatts hängen. Während er las, ging sein Atem schneller, und der Mund wurde ihm trocken.
Die deutschen Volksgenossen sind anzuhalten, den erforderlichen Abstand zwischen sich und den fremdvölkischen Arbeitern als eine nationale Pflicht zu betrachten. Bei Außerachtlassen der Grundsätze nationalsozialistischer Blutsauffassung muss der deutsche Volksgenosse sich
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