Nachtauge
miserabel gewesen, und er schwatzte viel. Doch wer weiß: Ohne diesen Krieg wäre vielleicht ein Künstler aus ihm geworden, ein Dichter oder Maler.
Er schwieg einen Moment. »Brauchst du Lesestoff? Ich gebe dir Bücher mit.«
»Im Schützengraben denkt man nur ans Überleben. Und daran, ob vielleicht ein Päckchen mit Kuchen aus der Heimat kommt. Nee, lassen Sie mal, Herr Hartmann.«
Da war etwas Dunkles an der Art, wie Matthias redete. Er hatte seine jugendliche Leichtigkeit eingebüßt, war schneller erwachsen geworden, als es gesund für ihn sein konnte. »Hast du viele erschossen?«, fragte er ihn leise.
»Natürlich.«
Georg schwieg betroffen.
»Anfangs war es seltsam. Ich hab mich gewundert, dass sie nicht wie im Kinofilm aufschreien und umfallen. Die meis ten brechen nur zusammen. Manchmal grunzen sie noch oder röcheln.«
Er schluckte. Katja war wieder da, die am Laternenpfahl hinunterrutschte. Die plötzliche Stille nach dem Schuss.
»Inzwischen hab ich mich daran gewöhnt. Wissen Sie, ich gebe den Russen einen schönen, kurzen Tod. Wenn sie einen von uns gefangen nehmen, quälen und foltern sie ihn. Ich knalle sie bloß ab.«
»Der Krieg ist bestialisch. Mein Vater ist 1915 gefallen, er war kaum älter als du. Hab keine Erinnerungen an ihn, nur alte Fotos. Großvater musste für mich den Vater spielen, und Mutter ging arbeiten. Wenn alle die Waffe niederlegen würden, jeder einzelne Soldat, dann wäre das Leid zu Ende und der Krieg vorbei.«
Matthias klopfte Asche von der Zigarette. »Nein, an der Front legst du die Waffe nicht weg. Du weißt genau, dass du nur lebendig da durchkommst, wenn ihr zusammenhaltet, du und die Kameraden. Im Gefecht muss auf jeden Verlass sein! Du brauchst Härte und Entschlossenheit. Wer die nicht hat, ist kein Soldat. An der Front überleben nur stahlharte Männer. Je wilder es um einen braust, desto fester muss man innerlich strammstehen.«
Was hatten sie bloß aus dem guten Jungen gemacht. »Hast du nie Zweifel, ob es richtig ist, dass wir gegen Russland Krieg führen?«
»Ich stehe in germanischer Treue zum Führer, wenn Sie das meinen. Wissen Sie nicht mehr, damals im Geschichtsunter richt? Die Schlacht von Leonidas in den Thermopylen als leuch tendes Beispiel dafür, wie sich einer hingeopfert hat für sein Volk? Wir machen das jetzt in Russland genauso wie Leonidas, wir kämpfen bis zur letzten Patrone. Am Ende siegt das Dritte Reich. Davon abgesehen, wir haben einfach die bessere Technik. Vor unseren Sturzkampfbombern haben sie alle Angst.«
»Und die Zivilbevölkerung? Denkt ihr auch an die?«
»Das ist der Überlebenskampf der Nationen, da wird nicht mehr unterschieden in Soldaten und Bevölkerung. Alle sind am Krieg beteiligt, jeder Russe, jeder Deutsche, jeder Brite. Die Feinde sind selbst schuld. Wenn sie uns zu wenig von den Rohstoffvorkommen der Welt abgeben, dann holen wir uns eben unseren gerechten Anteil. Wir sind ein großes und starkes Volk! Uns steht mehr zu.«
War der Junge wirklich ein überzeugter Nazi geworden? Beklommen musterte er ihn.
»Gucken Sie nicht so besorgt. Ich hab keine Frauen vergewaltigt und mich an keinen Plünderungen beteiligt. Was glauben Sie, was die anderen alles machen! Ich halt mich da raus. Bin anständig geblieben. Ich hab mir ja nicht mal einen Orden ausgeborgt für den Heimaturlaub! Die anderen machen das, sie leihen sich vom Kameraden ein Eisernes Kreuz aus und stecken sich’s an, damit sie im Urlaub vor der Familie nicht als Versager dastehen. Aber wenn ich Orden nach Hause bringe, dann beim nächsten Mal meine eigenen.«
»Gut, dass du dich aus den Gewaltexzessen raushältst, Matthias. Dieser Krieg … Ich weiß, ich sollte das jetzt nicht sagen. Du drehst mir doch keinen Strick daraus?«
»Reden Sie ruhig, Herr Hartmann, frei von der Leber weg. Mit unserem Feldwebel führ ich auch solche Gespräche. Wir haben Ehre im Leib bei der Wehrmacht. Wir verpfeifen niemanden.«
»Der Krieg ist nicht in Ordnung. Deutschland hat Russland überfallen, obwohl wir einen Vertrag mit Stalin hatten.«
»Glauben Sie alles, was die Feindsender melden? Wir sind einem Angriff der Russen nur zuvorgekommen, die Sowjets hatten längst geplant, uns zu attackieren.«
Dass sie den jungen Leuten solchen Unsinn beibrachten, machte ihn wütend. Die Partei wollte sie zu fanatischen Soldaten formen. Dafür verbog sie die Wahrheit. »Dann hätte die Wehrmacht doch an der Grenze auf eine Armee treffen müssen, anstatt auf verdutzte
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