Nachtauge
den Zahn fühlen.
Die Krüdewagen erschien im Schaufenster und zog der Schaufensterpuppe das Sommerkleid aus. Am Sonntag ver kaufte sie dem Hartmann ein Kleid! Dafür brauchte er also sein Geld, er kaufte heimlich ein. Für wen kaufte er das Kleid? Und warum konnte das nicht bis Montag warten? Oh, wie er ihn an der Angel hatte, wie schön der Hartmann zappeln würde!
»Herr Wiese, was machen Sie denn da?«
Er drehte sich um. »Frau Oppmann.« Er straffte seine Haltung. »Das sind Parteiinterna. Ich habe nicht die Befugnis, darüber zu sprechen.«
Misstrauisch sah sie ihn an. »Und die Büchse?«
»Wo haben Sie die überhaupt?«
Sie klopfte auf ihre ausgebeulte braune Handtasche. »Da drin.«
»Sind Sie mir nachgeschlichen?«
Sie machte ein beleidigtes Gesicht, wie es nur eine Siebzigjährige konnte. »Sonntagmittag gehe ich immer zu Auguste.« Ihre Stimme war dünn, und die pergamentenen Wangen verfärbten sich rosa vor Wut.
»Das ist Ihre Sache«, sagte er. »Und das hier ist meine. Gehen Sie weiter.«
Sie angelte die rote Büchse aus der Handtasche. »Dann kümmern Sie sich selbst um Ihren Kram und lassen Sie eine alte Frau in Ruhe.« Sie drückte ihm die Büchse in die Hand. »Ich will nichts damit zu tun haben.«
»Die Partei bittet Sie einmal um einen Gefallen, eine Kleinigkeit nur, und Sie …«
»Herr Wiese«, fiel sie ihm ins Wort, »Sie sind nicht die Partei. Und warum Sie der armen Frau Krüdewagen nachspionieren, weiß ich nicht, aber es ist sicher kein ehrenhafter Grund.«
Tatsächlich, Frau Krüdewagen ging über den Marktplatz. Wo war Georg Hartmann abgeblieben? Wegen der alten Schnepfe hatte er ihn aus den Augen verloren. »Sie behindern mich in der Ausübung meines Amtes. Das wird Folgen für Sie haben!«
»Mir machen Sie keine Angst mit Ihrem Gerede. Ich hab Sie schon aufs Reiterdenkmal spucken sehen, da waren Sie noch ein Dreikäsehoch. Ich hab Ihren Vater gekannt, der würde sich schämen, Sie hier so zu sehen.«
»Halten Sie den Mund.« Er ließ sie stehen und eilte über den Marktplatz, um in die Burgstraße zu spähen. Nirgendwo eine Spur von Georg Hartmann. Hatte er es schon bis zur Kleinbahnhaltestelle »Neheim, Stadt« Ecke Friedrichstraße und Bismarckstraße geschafft? Dass ihm der Sauhund nicht entwischte! Im Laufschritt setzte Ulrich ihm nach. In der roten Büchse schepperten die Münzen.
Georg rief Plöger in sein Büro. »Holen Sie die Arbeiterin Soest 13 849.«
»Wegen der Sabotage bei Trögelkind & Winkler?« Plöger bleckte die Zähne.
»Holen Sie sie einfach her.«
»Mit Vergnügen.«
Als der Wachmann fort war, nahm er das Kleid aus dem Koffer und steckte es in eine helle Stofftasche. Er hielt inne. Sein Plan würde Nadjeschka Freiheiten verschaffen, ihr zugleich jedoch auch Ärger und Hass einbringen. War es das Richtige für sie?
Plöger brachte sie ins Büro. »Soest 13 849«, meldete er.
»Nadjeschka.« Er stand auf und wies auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtischs. »Setz dich.«
Schüchtern trat sie näher.
»Sie können gehen, Herr Plöger. Ach, und teilen Sie bitte Agatha mit, dass sie als Barackenälteste abgelöst ist. Nadjeschka wird ihr Amt übernehmen.«
Plöger schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nicht. Sie ist neu, sie hat keine Erfahrung. In der Fabrik nicht und hier im Lager auch nicht! Wie soll sie die Frauen überwachen?«
»Sie ist klug und wird von allen geschätzt. Agatha hat sich unbeliebt gemacht.« Er sah auffordernd zur Tür. »Bitte lassen Sie uns jetzt allein.«
Mit finsterer Miene verließ Plöger den Raum.
Nadjeschka war auf halbem Weg zwischen der Tür und dem Schreibtisch stehen geblieben. Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Setz dich«, sagte er noch einmal.
Sie gehorchte. »Warum tun Sie das?«, fragte sie. »Der Wachmann hat recht, ich bin nicht geeignet für die Aufgabe.«
»Jedenfalls nicht, solange dir das Grauen im Gesicht steht wie eine Wachsmaske. Darf ich dich auf einen Spaziergang einladen?«
»Ich verstehe nicht.«
»Du hast viel durchgemacht in den letzten Tagen. Ich möchte dir helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Dir einen Ausblick geben auf die Zeit nach dem Krieg.«
»Bekommen Sie keinen Ärger, wenn Sie mit einer Ost arbeiterin draußen herumspazieren?«
Er lächelte. »In Einzelfällen darf ich euch Ausgang gewähren. Allerdings gibt es dann hundert Einschränkungen, was ihr dürft und wo ihr hingehen könnt und so weiter. Wie wäre es, wenn du heute Nachmittag jemand anderes bist? Wie
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