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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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größte Schuld auf mich geladen. Die allergrößte. Ich verdiene nicht mehr zu leben. Katja … Katja müsste hier sein und ich tot.«
    Die Schuld zerriss ihr das Herz. Sie hatte in der Fabrik den Schuss gehört, und wusste, dass er eigentlich ihr gegolten hatte. »Ich verstehe«, sagte er. Obwohl er wusste, dass er das nicht durfte, nahm er ihre Hand.
    Nadjeschka wandte sich ab, wollte ihr tränenüberströmtes Gesicht verbergen, während sie ihm die Hand ließ.
    Sie so verzweifelt zu sehen, presste ihm die Brust zusammen. Was der Krieg anrichtete, auch hier! Er erhob sich, zog sie mit hinauf und umarmte sie. Schützend hielt er sie fest. Ihr schlanker Körper bebte unter den Schluchzern.
    »Der Krieg ist bald vorbei«, sagte er.
    »Katja wird das nichts mehr nützen!«
    »Ja.« Er legte seine Hand um ihren Kopf. »Ich weiß.« Wie konnte er das Gewicht der Schuld lindern, das auf ihr lastete? Auch in seinen Augen sammelten sich Tränen. Sie würde damit leben müssen, was sie getan hatte. Dieser Schmerz ließ sich nie abschütteln. Er sagte: »Niemand kommt durch den Krieg, ohne schuldig zu werden.«
    Oh, es tat so gut, gehalten zu werden. Indem sie dem Lagerführer ihre Schuld bekannte, ging ein Teil der Last auf ihn über, so fühlte es sich an, nur ein kleiner Teil, aber das half ihr schon, unter dem Gewicht wieder Luft schöpfen zu können. Hartmann musste nun entscheiden, ob auch sie erschossen wurde. Es war nicht mehr allein ihre Verantwortung.
    Allmählich beruhigte sie sich, die Tränen versiegten. Sie stand einfach da in seinen Armen. Er roch nach warmer Haut, und sein Körper schützte sie.

14
    Am Morgen lächelte er sich im Spiegel an. Er kämmte sich, gab sich besondere Mühe beim Rasieren. Im Lager, bevor die Kolonne Trögelkind abmarschierte, sah er zu ihr hin, und sie zu ihm. Nadjeschkas Blick war fragend, vorsichtig. Später spazierte er aus der Stadt hinaus, hockte sich an den Wegesrand und fuhr mit der Hand durch das junge Frühlingsgras.
    Ein paar Kinder spielten am Ufer der Ruhr Kochen: In einer Grube mischten sie aus Dreck, Flusswasser und Brennnesseln eine Schlammsuppe. Die verteilten sie auf »Teller« aus Stein.
    Er hockte sich dazu und kostete. Die Kinder waren entzückt, dass ein Erwachsener mitspielte, sie wollten ihn gar nicht wieder gehen lassen. Lachend machte Georg ihnen Komplimente über ihre Kochkunst und verabschiedete sich.
    Er dachte an Nadjeschka und sonderbarerweise an Humes Kritik der Induktion. Bis man Australien entdeckte, hatte man geglaubt, alle Schwäne seien weiß, und es gäbe keine schwarzen. Manchmal musste man sich eben den Kopf offenhalten für das scheinbar Undenkbare.
    Erholt kehrte er in die Stadt zurück. Vor dem Geschäft für Kinderartikel unterhielten sich Mütter. Ihre Säuglinge krakeelten, die Mütter schaukelten die Kinderwagen, plauderten weiter und ließen die Kleinen schreien. Heute störte ihn nichts.
    Scharf und klar sah er alles, jeden Stein, jede Faser, jede Mücke. Er sah das Blut, das in kleinen Rinnsalen aus dem Schlachthaus auf die Straße lief. Den streunenden Hund, der es aufleckte. Die Fliegen, die ihn umsurrten.
    In der Apotheke in der Adolf-Hitler-Straße kaufte er für Nadjeschka Sanatogen, ein »Kräftigungsmittel bei allgemeiner Körperschwäche und Erschöpfungszuständen«.
    Auf dem Heimweg begegnete er dem Sohn der aufdringlichen Nachbarin. Matthias saß in der Sonne auf der Bank vor ihrem Haus und rauchte. War es nur die Uniform, die ihn älter machte, als er ihn in Erinnerung hatte? Eigentlich war es sein Wunsch gewesen, eine Ausbildung zum Automonteur zu beginnen, bevor er letztes Jahr einberufen wurde.
    »Heimaturlaub?«, fragte Georg und setzte sich zu ihm. »Wir haben schon darauf gewartet, dass sie dich mal heimschicken.«
    »Eine Woche.«
    »Deine Mutter kocht dir sicher was Gutes. Und du wirst deine alten Freunde besuchen.«
    Matthias zog an der Zigarette. »Hier gibt es keinen mehr. Heinz und Ulli sind gefallen, die seh ich höchstens im Himmel wieder. Und Henning ist in Frankreich.«
    Er erinnerte sich genau an die Jungen. Sie waren alle in seiner Klasse gewesen, als er am Realgymnasium unterrichtete. Der Gedanke, dass Heinz und Ulli tot waren, drückte ihm den Atem ab. »Tut mir leid«, brachte er heraus. Ulli war der Klassenbeste gewesen, was Geschichtszahlen anging. Und Heinz hatte obskure, aber einfallsreiche Aufsätze geschrieben, zum Beispiel über die Welt aus der Sicht einer Ameise. Seine Rechtschreibung war

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