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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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draußen geht. Mutter würde doch keine Nacht mehr ruhig schlafen.« Er sah Georg verzweifelt an. »Ständig die Kommandos, das Strammstehen, das Schießen, das Ausheben von Gräben. Wir wachen mehrmals in der Nacht auf, weil uns die Wanzen so heftig beißen. Mit unseren Läusen könnten wir Suppe kochen, so viele sind das! Ich hab meinen Pullover oben auf den Bunker gelegt, nachts, weil ich wollte, dass die Läuse erfrieren. Am nächsten Morgen hab ich nur noch ein paar Fetzen gefunden. Eine russische Granate muss ihn getroffen haben. Ich hab einem toten Kameraden den Pullover ausgezogen und ihn übernommen. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen!«
    Georg nickte. »Tu’s, Matthias. Und wenn wir die ganze Nacht hier sitzen. Erzähl mir, was du erlebt hast.«

15
    Die Ersatzmarmelade aus Steckrüben hatte einen derart bitteren Geschmack, dass es ihm den Gaumen zusammenzog. Georg kratzte sie mit dem Messer vom Brot und biss erneut ab. Eine Wespe flog durch das offen stehende Fenster herein und schwankte um das Marmeladenglas. Sie versuchte, im Glas zu landen, fiel in die klebrige Masse und ruderte wild. Er hielt ihr den Finger hin, und sie schaffte es, daran hochzuklettern. Er fühlte ihre Krallenbeinchen und beobachtete, wie sich die Wespe putzte: Sie wischte die Fühler mit den Vorderbeinen ab und führte die Beine anschließend durch die Mundpartie – sie leckte sie sauber. Dann bürstete sie mit den Hinterbeinen die Flügel und schlug sie eine Weile im Sitzen.
    Es klingelte.
    Er bugsierte die Wespe auf den Tellerrand. Als er aufstand, rutschte das Messer weg und fiel klirrend zu Boden. Das ganze Marmeladengeschmiere auf dem Küchenboden! Fluchend bückte er sich und hob das Messer auf. Wo war der Lappen? Es klingelte erneut. »Ja, ich komme!«, rief er. Er wischte mit dem Lappen über den Boden, warf ihn in das Spülbecken, ging zur Tür und öffnete. Blockwart Wiese.
    Die listigen Schweinsäuglein blitzten. »Wie schön, dass ich Sie endlich mal bei einer Sammlung antreffe, Herr Hartmann.«
    Er hielt seine rote Büchse hoch, auf der in großen Buchstaben NSV geschrieben stand. »Sie sind doch vorbereitet?«
    »Der Winter ist vorbei. Geh’n Sie mal raus, es ist warm und sonnig. Kommen Sie das nächste Mal im Oktober, wenn Sie fürs Winterhilfswerk sammeln wollen.«
    »Erstens, Herr Hartmann, haben Sie die letzten drei Male nichts fürs Winterhilfswerk gegeben, weil Sie nicht zu Hause waren oder Ihre Abwesenheit vorgetäuscht haben. Diese Spenden können Sie heute nachholen. Und zweitens gehören zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt auch die Jugendhilfe und der Mütterdienst im Deutschen Frauenbund.«
    »Ich helfe jungen Leuten, keine Sorge. Dafür brauche ich keine Sammelbüchse.«
    Wiese ließ die Büchse sinken und betrachtete ihn neugierig. »Man bekommt den Eindruck, dass Sie sich scheuen, die nationalsozialistischen Organisationen zu unterstützen.«
    »Ich habe beim letzten Mal eine Reichsmark gegeben.«
    Wiese lachte und wischte sich vergnügt über den Schnauzbart. »Wann war das? Im November? Ich habe gerade von einem Arbeiter zwanzig Mark erhalten, von einem einfachen Arbeiter! So ist das eben manchmal. Ein mittlerer Beamter gibt nur fünfzig Pfennig oder gar nichts, und das einfache Volk hält das Reich zusammen.« Er wurde ernst. »Herr Hartmann, ich rate Ihnen dringend, Ihre Versäumnisse der letzten Wintermonate nachzuholen und heute, sagen wir, mindestens einen Fünfmarkschein in meine Büchse zu stecken. Außerdem erwarte ich, dass Sie als Lagerführer in Zukunft mit gutem Beispiel vorangehen. Bei jeder Sammlung.«
    »Drohen Sie mir?«
    »Es entsteht allmählich der Eindruck, Sie wollten sich drücken.«
    Er hatte die organisierte Bettelei der Partei dermaßen satt, die Kleidersammlungen, Spielzeugsammlungen, das Verkaufen von Anstecknadeln! All das, um den Staat von Ausgaben zu entlasten, damit er mehr Waffen kaufen konnte. »Diese elende Bettelei …«, sagte er leise.
    »Wie bitte? Ich sage Ihnen, nach dem Krieg werden sich die Frontkämpfer die Spendenlisten geben lassen, und dann polieren sie allen die Visage, die geizig waren, während sie an der Front geblutet haben!«
    Oh, wie er Leute hasste, die solche Reden schwangen. Wenn dieser Wiese gehört hätte, was ihm Matthias letzte Nacht erzählt hatte! Er sagte: »Warum sind Sie eigentlich nicht an der Front?«
    Das Gesicht des Blockwarts wurde rot vor Wut. »Sie wagen es …«
    »Kommen Sie wieder, wenn Sie mir diese Frage

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