Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
Das Studium der einschlägigen Literatur hatte mich nicht entscheidend weitergebracht, und der kurze, flüchtige Kontakt mit einem Wesen meiner Art war äußerst enttäuschend gewesen. Ich mu sste es wagen. Am besten sofort.
Gerade wollte ich mich aus dem Schutz des Busches lösen, als plötzlich ein Auto die Auffahrt zu Barkers Haus hochfuhr. Ich erstarrte und wartete, was passieren würde. Der Wagen hielt direkt vor der Haustür, und ein Mann stieg aus. Er ging mit schnellen Schritten auf den Eingang zu, und schon erklang das Läuten einer Türglocke. Der Professor sah kurz auf die Uhr, nickte mit dem Kopf und ging aus dem Zimmer. Offensichtlich hatte der den Besucher erwartet. Wenige Sekunden später kamen der Mann aus dem Auto und Barker zurück in das Arbeitszimmer. Mich traf fast der Schlag: Michael Goldstein! Was wollte der Chef der Mordkommission von dem alten Gelehrten?
Goldstein zog seinen Mantel aus. Sein Blick flog prüfend durch das gesamte Zimmer, als ob er es gewohnt sei, alles um sich herum gewissenhaft zu kontrollieren.
Glücklicherweise war das Fenster einen Spalt geöffnet, und ich konnte jedes Wort verstehen.
»Danke, dass Sie mich so spät noch empfangen, Herr Professor«, sagte der Polizist. »Ich war schon verdammt froh, Sie endlich einmal telefonisch erreicht zu haben.«
»Schon gut, ich bin immer lange wach«, antwortete Barker und fegte ein paar Unterlagen von einem schweren Ledersessel. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Bitte nehmen Sie Platz, Kommissar Goldstein.«
Goldstein setzte sich, öffnete eine Aktentasche und holte einen Umschlag hervor.
»Ich will gleich zur Sache kommen, Professor. Wie ich schon am Telefon sagte, ermitteln wir in einer Serie ungeklärter Mordfälle. Seit mehreren Monaten finden wir in der Stadt immer wieder Leichen von Männern, die ohne erkennbares Motiv umgebracht wurden. Nie fehlt den Opfern Geld oder andere Wertgegenstände. Es fehlt ihnen lediglich etwas anderes – ihr Blut. Die Toten sind nahezu ausgeblutet.«
Ich erstarrte. Goldstein sprach zweifellos von meinen Opfern! Plötzlich erkannte ich, wie naiv ich gewesen war. Ich hatte getötet, ohne mir ernsthaft darüber Gedanken zu machen, was die Behörden zu den rätselhaften Leichenfunden sagen würden.
»Wie unappetitlich, aber wieso kommen Sie damit zu mir?« fragte Barker.
»Nun, Herr Professor. Die Opfer sind nicht etwa aufgeschlitzt worden oder ähnliches und dann verblutet. Wir fanden in den meisten Fällen lediglich zwei kleine Wundmale am Hals und…«
Goldstein stockte. Offensichtlich war es ihm unangenehm, seine Vermutungen laut auszusprechen.
Der Professor grinste.
»Ach, und da dachten Sie: Da geh ich doch mal zu Barker, dem alten Zausel, und frage ihn, ob’s nicht ein Vampir gewesen sein könnte?«
»Natürlich nicht, Professor«, sagte Goldstein, und ich konnte den Ärger in seiner Stimme hören. Es schien ihm ziemliche Schwierigkeiten zu bereiten, jemanden umständlich um etwas zu bitten.
»Bevor ich weiterrede«, sagte er schließlich, »möchte ich Sie erst einmal bitten, sich das hier anzusehen.«
Er öffnete den Umschlag, holte eine Reihe großformatiger Fotos heraus und reichte sie dem Professor.
Ich zuckte zusammen. Die Bilder zeigten Leichen, die wie hingeworfen auf der Straße lagen. Die Opfer meiner Blutgier! Ich spürte, wie mich kaltes Entsetzen packte. Ich wusste ja, dass ich getötet hatte, um zu überleben. Aber hier auf diese Weise damit konfrontiert zu werden, war fast unerträglich. Am liebsten wäre ich sofort weggerannt, aber ich zwang mich, weiter zu horchen. Schließlich war Goldstein auf der Suche nach mir.
Der Professor sah sich die Bilder mit ernstem Gesicht an. Besonders die Vergrößerungen der Wundmale schienen ihn zu interessieren.
»Das ist in der Tat absonderlich«, sagte er endlich und reichte Goldstein die Fotos zurück. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum Sie damit ausgerechnet zu mir kommen.«
Goldstein wollte antworten, aber der Professor hob abwehrend eine Hand. »Lassen Sie mich Ihnen eines erklären, Herr Kommissar. Ich bin Wissenschaftler und außerdem ein neugieriger Mensch. Mich interessiert alles Unbekannte, besonders das Okkulte. Ich forsche, lese, vergleiche, übersetze, ordne und untersuche. Ich weiß viel über Vampire. Aber ich weiß nicht, ob es sie wirklich gibt. Möglicherweise…«
»Aber darum geht es doch gar nicht«, platzte Goldstein mühsam beherrscht heraus. »Wir sind auf Sie gekommen, weil Sie so ein
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