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Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin

Titel: Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz
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Abneigung gegen Sonnenlicht, extreme Körperkräfte, die spitzen Fangzähne, veränderte Augen und eine Existenz jenseits der Zeit. Die Wurzeln des Vampirglaubens schienen entweder im alten assyrischen Großreich, in Indien oder in Ägypten zu liegen. Ägypten als Wiege der Vampire erschien mir als ehemaliger Archäologin am reizvollsten. Der hochspezialisierte Totenkult dieser alten Kultur barg immer noch zahlreiche Geheimnisse. Die Ägypter kannten das geheimnisvolle ka , den unkörperlichen Spender der Lebenskraft. Vielleicht lag irgendwo im Tal der Pyramiden das Geheimnis des ewigen Lebens verborgen, und vielleicht war ich ein Teil dieses Geheimnisses? Es war ein seltsames Gefühl, all diese Dinge über Vampire, all diese Hypothesen über ihre mythologische Genese zu lesen. Es war, als ob ich in einer zwar fehlerhaften, aber gigantischen Familienchronik las. Der Hauch der Jahrtausende wehte mir aus den Büchern entgegen und versetzte mich in eine eigenartige Stimmung. Manchmal saß ich nach der Lektüre stundenlang bewegungslos am Fenster und starrte hinaus in den Nachthimmel. In diesen Phasen spürte ich nichts, außer dem Gefühl, eins zu sein mit der Schwärze.
    Aber das war die emotionale Wirkung meiner stillen Lektüre. Mein Verstand sagte mir immer wieder, da ss das meiste, was ich las, widersprüchlich, unsystematisch und verworren war. Historie, Aberglaube, Dichtkunst und religiöse Motive vermischten sich zu einem bunten Durcheinander. Allein die beinahe überall zu findende Behauptung, jeder Vampirbiss würde zur Geburt eines neuen Vampirs führen, widersprach nicht nur meinen eigenen Erfahrungen, sondern im Grunde auch jeder Logik. Die Welt müsste ja sonst von Vampiren überquellen. Legionen von Blutsaugern würden täglich das Heer der Untoten vergrößern und die Menschheit längst ausgerottet haben.
    Was mir fehlte, war jemand, der sich wirklich auskannte, Zugang zu direkten Quellen hatte und sich weder von schwärmerischen Schwelgereien noch von rationalem Skeptizismus blenden ließ. Und ich wu sste auch schon, wer dieser Jemand war. Immer wieder stieß ich in den Büchern auf den Namen eines renommierten Gelehrten: Professor Reginald Barker, ein alter Mann, der sich einen Namen als Archäologe, Anthropologe und Kryptologe gemacht hatte. Er hatte entscheidenden Anteil am Nachweis, dass die hethitische Keilschrift indo-germanischen und nicht, wie allgemein angenommen, kaukasischen Ursprungs war. Für einen Laien mochte das belanglos klingen. Wer etwas von der Entzifferung alter Schriften verstand, konnte nur den Hut vor dieser wissenschaftlichen Feinstarbeit ziehen. Vor allem aber hatte Barker einen Hang zum Okkulten. Es war sozusagen sein Steckenpferd, sich neben seiner eigentlichen Arbeit auch noch mit den berühmten Dingen zwischen Himmel und Erde zu beschäftigen, für die unsere Schulweisheit keine oder nur unzulängliche Erklärungen hatte. Barker hatte sich zu allen möglichen übersinnlichen Phänomenen geäußert und warf der etablierten Wissenschaft vor, die Augen vor gewissen Realitäten zu verschließen. Ich wollte den Professor kennenlernen. Vielleicht könnte er mir helfen. Und mit diesem beruhigenden Gedanken schlief ich in der Morgendämmerung ein.
    Ein paar Tage später sah ich Professor Barker in einem Fernseh-Interview. Es ging natürlich um Okkultismus. Als Archäologe war Barker für die Medien nicht interessant. Als »Anwalt der Geister«, wie sie ihn in der Bildunterschrift bezeichneten, dagegen sehr wohl. Barker war etwa siebzig Jahre alt, hatte volles, fast weißes Haar und eine gigantische Nase, die seinem Aussehen etwas Groteskes gab. Doch seine wachen Augen, seine tiefe Stimme und seine geschliffene und pointierte Art zu formulieren, ließen ihn schnell in einem anderen Licht erscheinen.
    »Herr Professor«, begann der Interviewer, ein junger Mann mit modischer Frisur und einer grässlichen Krawatte. »Sie behaupten also, dass es Geister und Monster gibt.«
    »Unsinn«, donnerte Barker. »Ich behaupte gar nichts. Ich sage nur, da ss es Dinge gibt, die wir mit den heutigen, wissenschaftlichen Methoden noch nicht erklären können. Nehmen Sie das Phänomen des Hellsehens. Da gibt es seriöse Forschungen an den verschiedenen, parapsychologischen Instituten. Methodisch einwandfrei. Das Ergebnis: Es gibt Leute, die offensichtlich per Gedankenkraft Bilder und Worte senden und empfangen können. Außerdem…«
    »Mag ja sein, Herr Professor«, unterbrach ihn sein Gegenüber.

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