Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
wiederzusehen«, sagte Barker. »Aber ich tue es. Kommen Sie herein.«
Wir gingen schweigend in sein Arbeitszimmer. Ein Blick auf seinen Schreibtisch machte jedes weitere Wort überflüssig. Er quoll über vor Büchern, Kopien von alten Handschriften und zahllosen Notizzetteln. Der Wissenschaftler in ihm hatte gesiegt. Barker mochte mich zwar fürchten, aber in erster Linie war er offenbar fasziniert von meiner Existenz. Sein Gewissen hatte er wohl damit beruhigt, dass ihm letztendlich keine Wahl blieb, als mit mir zusammenzuarbeiten.
»Ich sehe, Sie haben sich ein bi sschen vorbereitet«, sagte ich und lächelte.
Er nickte ernst und griff nach einem Buch: »Wir sollten alles, was in den verschiedenen Quellen steht, mit Ihren eigenen Erfahrungen vergleichen… Ich habe verdammt viele Fragen.«
»Gern, aber lassen Sie uns vorher über Kommissar Goldstein sprechen.«
Barker legte das Buch auf den Tisch zurück. »Woher wissen Sie überhaupt, da ss er schon einmal bei mir war?« fragte er.
»Ich war hier, Professor. Draußen in Ihrem Garten. Vor diesem Fenster.«
Barker schwieg und ließ sich in seinen Sessel fallen.
»Dann wissen Sie ja, was der Mann will«, fuhr er schließlich fort. »Er will Hinweise auf ein mögliches Täter-Umfeld.«
»Und – haben Sie was für ihn?« fragte ich.
»Es gibt ein paar Vampir-Zirkel in der Stadt. Aber das sind bloß Horror-Freaks. Leicht verrückt, aber harmlos.«
»Dann werden wir Goldstein genau das sagen«, sagte ich.
»Wir?« Barker richtete sich im Sessel auf. »Was soll das heißen?«
»Sie haben ab sofort eine Assistentin. Ich will dabei sein, wenn Sie Goldstein das nächste Mal empfangen.«
»Was soll das für einen Sinn haben? Der Mann ist sozusagen auf der Jagd nach Ihnen«, sagte Barker kopfschüttelnd.
»Genau das ist der Grund. Aber lassen Sie das meine Sorge sein. Und keine Angst. Ich verspreche, dass ich dem Mann nichts tun werde. Ich will lediglich anwesend sein. Machen Sie einen Termin am frühen Abend. Und jetzt, Professor, können Sie mir Ihre verdammt vielen Fragen stellen.«
Es wurde eine lange Nacht. Barker und ich trugen unser theoretisches Wissen über die Geschichte der Vampire zusammen und verglichen das Resultat mit all meinen Eigenschaften und äußerlichen Merkmalen. Nach und nach trennten wir dann offensichtlichen Unsinn von Quellen, die Wahrheiten oder zumindest Halbwahrheiten enthielten. Barker fragte mich penibel aus. Ich mu sste ihm noch einmal so detailliert wie irgend möglich die erste, schicksalhafte Begegnung mit der unheimlichen Frau erzählen. Er wollte in allen Einzelheiten wissen, wie ich mich nach meiner Erschaffung gefühlt, was ich genau getan hatte. Er ließ sich beschreiben, wie ich meine Opfer riss, wie viel Blut ich in welchen Abständen brauchte, wie ich das Tageslicht in seinen verschiedenen Stärken empfand und so weiter und sofort.
Ich gab gewissenhaft Auskunft. Barkers anfängliche Befangenheit verflog immer mehr. Schließlich fragte er mich sogar, ob er sich meine Zähne und Augen einmal genauer ansehen konnte. Ich willigte ein, und der Professor untersuchte mich mit einer kleinen Taschenlampe und murmelte dabei Worte wie »sonderbar«, »interessant« und »phantastisch«.
Ich ließ alles geschehen und fühlte mich sonderbar wohl als Studienobjekt. Wie eine verzweifelte Patientin, die endlich den richtigen Experten für eine exotische Krankheit gefunden hat. Außerdem wusste ich jetzt, dass ich dem Professor vertrauen konnte. Es tat gut, ohne Vorbehalte über alles zu reden, gemeinsam in Büchern zu wühlen und Hypothesen aufzustellen.
Geduldig wartete ich, bis der Professor altertümliche Texte übersetzt hatte, und ordnete die Ergebnisse dann in unsere Grobrasterung ein. Ich wurde nach und nach tatsächlich zu der Assistentin, für die ich mich Goldstein gegenüber ausgeben wollte.
Schließlich, nach Stunden, hatten wir einen ganzen Stapel von Quellen gesammelt, die uns vielversprechend erschienen.
»Eines ist verblüffend«, dozierte Barker. »Da, wo weibliche Vampire beschrieben werden, haben wir stets den größten Wahrheitsgehalt. Sehen Sie hier. Da haben wir zum Beispiel die Göttin Hekate , die von den alten Griechen verehrt wurde. Sie war die Herrin der Geister und Gespenster, trank Blut und konnte jedem Wesen ihren Willen aufzwingen. Und hier…«
Er griff nach einem anderen Buch und blätterte. »Ah, da ist es. Der Mythos der Lamina , ein weiblicher Vampir, ebenfalls im antiken Griechenland und
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