Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
mir furchtbar auf. Als ich mich umdrehte, lag er blutend und reglos mitten auf der Straße, den Kopf in einem absurden Winkel verdreht. Ehe ich auch nur reagieren konnte, hörte ich eine seltsame, dunkle Stimme. »Natürlich helfe ich Ihnen. Kommen Sie.«
Die Frau, die wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war, war groß, blass und schlank, trug eine dunkle Brille und lächelte mit geschlossenen Lippen. Als die untergehende Sonne noch einmal kurz hinter einer Wolkenwand hervorlugte, verzog sie kurz missbilligend das Gesicht und zeigte auf ihr Auto. »Bitte, junge Frau. Ich denke, dort werden wir uns angesichts der Umstände wohler fühlen.«
Wie hypnotisiert stieg ich ins Innere des Autos. Es war angenehm kühl darin. Die getönten Scheiben sorgten für ein seltsames Zwielicht.
Die Frau setzte sich auf den Fahrersitz, drehte den Kopf in meine Richtung und sagte: »Sie hätten gekämpft, nicht wahr?«
»Sie meinen gegen den Hund?«
»Ja, gegen dieses bedauernswerte, hungrige Wesen.«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich«, antwortete ich.
»Doch, das hätten Sie. Mit Ihren Händen, Füßen, mit Ihren Zähnen. Ich spüre es. Sie hätten sich nicht kampflos ergeben. Sie sind etwas Besonderes. Ich treffe nicht oft Menschen wie Sie. Starke Menschen.«
»Aber ich bitte Sie, ich bin weggelaufen«, sagte ich und wurde rot.
»Weil Sie den Kampf nicht wollten«, antwortete sie. »Was immer schlauer ist. Aber Sie hätten gekämpft. Doch genug davon. Geht es Ihnen gut, liebe …« Sie sah mich fragend an.
»Ludmilla«, sagte ich. »Ich heiße Ludmilla.«
»Ludmilla«, sagte sie langsam. »Wie schön…«
Dann schwieg sie, und wir fuhren in die beginnende Dämmerung hinein.
Schon nach wenigen Minuten wurde ich schläfrig. Mein letzter wacher Gedanke war, dass ich eigentlich nach dem Hund fragen wollte. Irgend etwas war mit dem Tier geschehen. Irgend etwas, das nicht normal war. Doch der Schlaf war stärker, und ich sackte weg ins Nichts. Als ich erwachte, war es draußen stockfinster. Die Scheinwerfer schnitten Lichtsäulen in die Schwärze. Ich wusste nicht, wo ich war. Abrupt kam die Erinnerung. Mein Kopf fuhr herum. Die Frau saß am Steuer, ruhig, vollkommen entspannt. Dann drehte sie ihren Kopf zu mir und sah mich an.
Ich wollte schreien. Ich wollte die Tür aufreißen, wollte meine Arme hochreißen und mich vor diesem Anblick schützen. Doch ihr Blick lähmte mich. Ich konnte keinen Finger bewegen. Ich sah nur diese grauenhaften Augen. Funkelnd und kalt wie die eines Raubtieres. Mit sonderbaren Pupillen, die nicht menschlich wirkten. Sie lächelte und entblößte ein blendend weißes Gebiss. Die Eckzähne waren zwar klein, aber unnatürlich spitz. Ich schaffte es mit ungeheurer Anstrengung, den Kopf von ihr wegzudrehen, und sah, dass wir nicht mehr auf der Landstraße fuhren. Der Wagen knirschte und ruckelte auf einem unwegsamen Waldweg. Ich sah ein Hinweisschild und für eine Sekunde einen gewaltigen Felsen in der Form eines Vs. »Hab keine Angst, Ludmilla«, sagte sie. »Ich mache dir ein Geschenk. Ich schenke dir etwas, das dir kein Mann geben kann. Ich schenke dir die Ewigkeit.«
Sie lachte, hob ihren Arm und strich mir mit ihrer Hand über den Kopf. Sie war kalt wie der Tod. Dann sah und fühlte ich nur noch Schwärze.
3 - GEBURT
Dunkelheit. Und Stille. Lautloses Schwimmen im Nichts. Ich war tot. Und doch dachte ich. Fühlte ich. Einen seltsamen Druck, der immer stärker wurde. Als ob etwas in mir wuchs und nach draußen drängte. Etwas Fremdes, Unheimliches. Ich fühlte Schmerzen. Ungeheure Schmerzen. Und Wut. Und Kraft.
Ich schlug die Augen auf und blickte in den wolkenlosen Sternenhimmel. Mit verdrehtem Körper lag ich auf einer Wiese. Irgend etwas musste mich mit ungeheurer Gewalt verletzt und zu Boden geschleudert haben. Dann kam die Erinnerung zurück. Der Hund, meine Flucht und schließlich die seltsame Frau mit den grauenhaften Augen und der bleichen Haut. Irgend etwas Sonderbares war mit mir geschehen. Alles um mich herum war anders. Ich sah klarer, weiter, roch die Umgebung mit sonderbarer Intensität, spürte das Leben im Wald, neben mir, unter mir. In der warmen Erde. Ich stand auf. Noch etwas wackelig auf den Beinen, aber mit jeder Sekunde kraftvoller und energiegeladener. Als ich den Kopf drehte, spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem Hals. Meine Hand fuhr an meine Kehle, und ich fühlte eine bereits vernarbte Wunde.
In diesem Moment kam der Hunger. So machtvoll und brutal, wie ich
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