Nachtblau - Tagebuch einer Vampirin
sieht sie irgendwie anders aus.«
Er zeigte mit dem Finger auf mich.
»Sie ist kein Mensch. Sie ist eine Blutsaugerin. Eine Untote. Und jetzt, wo es ihr an den Kragen geht, da hätte es natürlich gut gepasst, den alten Carl als Mörder hinzustellen. Vorbestraft. Klingt immer gut für die Bullen. Aber nicht mit mir. Das hier, Goldstein, ist die Wahrheit. Sehen Sie sich die beschissene Nutte doch an, wie ihr das Blut aus der Fresse läuft. Man sollte sie einfach abknallen. Mal sehen, was passiert, wenn ich ihr ins Bein schieße.«
Er nahm die Waffe von Lindas Kopf und zielte auf mich. Ich war wie erstarrt. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
»Neiiiiin!«
Michael warf sich schreiend nach vorn, genau in die Schu ssbahn. Im gleichen Moment knallte es zweimal.
Michael schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Auf seiner Brust breiteten sich sofort Blutflecken aus.
»Scheiße!« schrie Carl.
Linda ließ sich zu Boden fallen.
Endlich erwachte ich aus meiner Lethargie. Im Bruchteil einer Sekunde war ich bei Carl, schlug ihm die Pistole aus der Hand, riss ihn von Linda fort und warf ihn quer durch den Raum. Er krachte gegen die Wand und blieb benommen liegen.
Ehe er sich aufrappeln konnte, war ich schon wieder über ihm.
»Ludmilla! Nein. Tu’s nicht«, hörte ich Lindas Stimme. »Du machst alles nur noch schlimmer.«
Doch mein Ha ss, meine Wut waren zu groß. Ich packte Carl, zog ihn dicht an mich heran und sah sein wimmerndes, angstverzerrtes Gesicht vor mir.
Es gefiel mir, ihn so zu sehen. Ich dachte in diesem Augenblick weder an Michael, noch an Linda. Ich dachte nur noch ans Töten.
»So!« schrie ich. »Du weißt also, was ich bin. Das bin ich, Carl. Das hier!«
Ich schlug ihm ins Gesicht. Seine Lippe platzte auf. Ich brach ihm die Nase. Er hob einen Arm. Ich knickte ihn um wie einen morschen Ast. Dann packte ich Carl, riß ihn hoch und warf ihn durch das geschlossene Fenster hinaus in den Garten. Er landete in einer Wolke aus zerborstenem Glas draußen auf dem Rasen. Er wollte fortkriechen. Ich sprang hinterher und tötete ihn mit einem Fußtritt ins Genick. Dann stand ich reglos da und badete in einer warmen Welle von Genugtuung. Ich hatte ihn endlich getötet. Ihn, der alles zerstört hatte.
Dann, wie aus weiter Ferne, hörte ich Lindas Stimme: »Ludmilla, komm schnell. Michael lebt.«
Erst jetzt kam ich wieder richtig zu mir und rannte hinein.
Linda stand bereits am Telefon: »Ein Notfall!« rief sie in den Hörer. »Zwei Schwerverletzte. Kommen Sie sofort.«
Dann nannte sie ihre Adresse und legte auf.
Ich kniete neben Michael nieder und hielt seinen Kopf. Er war ohne Bewusstsein. Carl hatte ihn zweimal erwischt. Wo, konnte ich bei all dem Blut nicht erkennen. Ich hatte geglaubt, dass er tot sei. Carl hatte eine großkalibrige Pistole benutzt. Aber Michael atmete. Flach, aber er atmete.
»Er hat sich für mich geopfert«, flüsterte ich und sah Linda an. »Er hat erfahren, was ich bin, und trotzdem hat er das getan. Dabei hätte ich von diesen Schüssen schon am nächsten Morgen nichts mehr gemerkt. Was für eine Ironie.«
»Ludmilla«.
Linda berührte mich sanft an der Schulter. Aber ich spürte die Furcht in ihr. »Gleich wird die Ambulanz hier sein. Und wenn die sehen, was hier los ist, auch schnell die Polizei. Du mu sst verschwinden. Ich werde ihnen irgendwas erzählen. Geh, solange es noch Zeit ist.«
Ich stand auf und sah sie an. Meine gute, alte Linda. Gequält von Carl. Zeuge eines Massakers. Die Freundin eines Monsters. Und doch behielt sie einen kühlen Kopf und wu sste, was zu tun war. Sie hatte recht. Ich durfte den Behörden nicht in die Hände fallen.
»Ja, Linda, ich gehe«, sagte ich, drückte kurz ihren Arm, warf einen letzten Blick auf Michael und lief hinaus in die Nacht.
Als ich ein paar hundert Meter gerannt war, hörte ich schon das Heulen der Sirenen. Hoffentlich konnten sie Michael helfen. Hoffentlich.
Zu Hause in meiner Wohnung saß ich stundenlang auf meinem Bett und dachte nach. Was sollte jetzt geschehen? Was würde Linda der Polizei erzählen?
Ich war verzweifelt. Ich brauchte dringend Hilfe. Ich rannte zum Telefon und rief Pia in der Videothek an. Ich erzählte ihr atemlos, was geschehen war.
Zehn Minuten später war sie da. Ich ri ss die Tür auf und fiel ihr um den Hals. Sie hielt mich fest und sagte kopfschüttelnd mit ihrer tiefen Stimme: »Du und deine Menschen.«
Sie strich mir zärtlich das Haar aus dem Gesicht, wischte mir eine
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