Nachtblauer Tod
vergeblich. Im Schutz der am Straßenrand geparkten Autos bewegte Leon sich gebückt vorwärts. Wenn mich jemand sieht, wird er mich für einen Autoknacker halten, dachte Leon.
Nach dem Ortungsgerät, das nicht größer als ein Handy war, aber leider alle paar Minuten einen nervtötenden Summton machte, musste Maik sich vor oder in diesem Zweifamilienhaus befinden. Sein Rennrad hatte Leon schon an der Straßenecke entdeckt, aber von ihm selbst war nichts zu sehen.
Leon schlich einmal ums Haus. In der linken Haushälfte brannte unten noch eine Leselampe. Ein Herr mit Vollglatze lag in seinem Ohrensessel, die Füße auf einem Hocker, und schmökerte genüsslich in einem dicken Roman.
Dieser in ein Buch versunkene Mann erinnerte Leon auf bestürzende Weise an seine Mutter. Die hatte er oft so merkwürdig entrückt gesehen mit Wälzern, die nur selten weniger als vierhundert Seiten hatten. Manchmal, wenn sie viele Stunden mit so einem »Pageturner«, wie sie besonders spannende Krimis gerne nannte, verbracht hatte, dann kam sie ihm vor wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Neben dem Mann auf einem kleinen Tischchen stand ein halbvolles Glas Rotwein. Er nippte daran, ohne den Blick vom Buch zu wenden.
Genau so hatte es Leons Mutter gemacht. Er konnte sich immer über ihre tastenden Finger amüsieren, die auf dem Nachttischschränkchen die Schokolade suchten, die immer da lag, wenn seine Mutter sich in ihr allabendliches Leseabenteuer stürzte. Manchmal hatte er sich – als er noch ein kleiner Junge war – unbemerkt in ihr Zimmer geschlichen, hatte im Schatten des Nachtschränkchens gesessen und ihr dabei zugesehen. Wie schön sie doch war, seine Mutter!
Einmal hatte er sich einen Scherz erlaubt und ganz leise die Schokolade an sich genommen. Er hatte nicht reingebissen. Er wollte nur sehen, was passieren würde, wenn ihre suchenden Finger ins Leere griffen.
Sie hatte keineswegs von ihrem Buch nach links geschaut, um zu sehen, wo die Schokolade geblieben war. Nein, sie suchte weiter mit den Fingern die glatte Fläche ab und dann, nach einem Moment, schien sie vergessen zu haben, dass sie gerade noch ein Stück Schokolade essen wollte. Ihre Finger wurden woanders gebraucht. Zum Umblättern. Vielleicht nach zehn Minuten – sie hatte inzwischen schon mehrfach umgeblättert – schickte sie ihre Finger erneut auf die Suche.
Irgendwann hatte er zu kichern angefangen. Sie schreckte auf und sah ihn an.
»Sitzt du schon lange da?«, hatte sie gefragt, und ihre Stimme klang fremd. Ihre Augen, die eben noch in eine andere Welt geblickt hatten, fixierten ihn irritiert und belustigt.
Die Schokolade teilten sie sich, er bekam noch einen Kuss, und dann erlag sie wieder der Magie ihres Krimis. Der Umschlag war ganz in Schwarz gehalten. Es war ein Taschenbuch. Wenn er sich richtig erinnerte, hieß der Autor Frank Göhre.
Vielleicht, dachte Leon, war es mit meiner Mutter genau so wie jetzt mit diesem netten glatzköpfigen Weintrinker. Auch er bemerkt mich nicht, ist ganz in sein Buch versunken. Leon konnte das Titelbild sehen. Es war »Gut Schuss« von Manfred C. Schmidt.
Der Summton des Ortungsgerätes erschreckte Leon. Aber wo, verdammt, war Maik?
Leon stand ganz ruhig und lauschte nur.
Da waren Raben im Baum. Sie zankten sich, zumindest hörte es sich für Leute, die der Rabensprache unkundig waren, so an.
Auf der rechten Seite des Hauses, das spiegelgleich aussah wie das linke, flimmerte unten ein Fernsehgerät. Der Ton war leise gestellt, da wollte wohl jemand seine Mitbewohner nicht stören. Ein Fenster stand sperrweit offen. Das Licht zog Insekten an, aber ein Fliegengitter hinderte sie daran, ins Haus zu gelangen. Mehrere Spinnennetze zierten den Rand des Insektenschutzes, als würden sie ihn an der Wand festhalten. Neben dem engmaschigen Gitter fand ein regelrechter Krieg statt. Fliegen und Stechmücken verfingen sich in den Spinnennetzen und wurden zur leichten Beute.
Leon stand jetzt unter dem Balkon. Als er ein Knacken im Kirschbaum hörte, wusste er, wo Maik war, und gleichzeitig bekam das wütende Schimpfen der Raben einen Sinn.
Das typische Geräusch vom Motor eines herausfahrenden Teleobjektivs verriet, was Maik da oben im Baum machte.
In der Mordnacht war Vollmond gewesen, daran erinnerte Leon sich. Jetzt sah der abnehmende Mond schon ein bisschen angeknabbert aus, aber er umrahmte Maiks Kopf wie ein Heiligenschein. In der Dunkelheit verschmolz Maiks Körper praktisch mit den Ästen und Blättern
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