Nachtblauer Tod
aufgeregte, zornige Stimmen. Ein Rotweinatem ganz nah an seinem Gesicht verursachte ihm Übelkeit und ließ ihn würgen. Er blinzelte hoch und blickte in das wütende Gesicht des glatzköpfigen Lesers.
»Blue! Er wird wach«, rief der Mann, der gerade eben noch in seinem Krimi gelesen hatte.
»Soll ich ihm noch eine verpassen?«, fragte Blue und hob seinen Baseballschläger.
»Nicht!«, kreischte eine junge Frau.
»Ja, nimm das Schwein auch noch in Schutz, Elli!«, schimpfte der, den sie ›Blue‹ nannten.
»Da kommt ja auch schon die Polizei!«, freute sich der Weintrinker.
»Wurde aber auch Zeit«, meckerte Elli und war erleichtert, dass jemand die Verantwortung übernahm.
Das Blaulicht spiegelte sich in den Scheiben und ließ die Äste der Bäume merkwürdig gespenstisch erscheinen, wie traurige Wesen, die sich auf ihrem weiten Weg verirrt hatten.
Leon versuchte aufzustehen. Sein Kopf kam ihm bleischwer vor. Noch hielt ihn ein Geflecht aus Rosenzweigen fest. Als er es endlich schaffte, auf die Beine zu kommen, und auf die zwei Polizisten zugehen wollte, schleppte er ein abgebrochenes Gitter mit Rosenresten hinter sich her, das sich an seiner Kleidung verfangen hatte.
Er konnte es nicht abschütteln. Ihm war, als würde er wie auf Watte gehen. Er spürte seine Beine kaum. Er schwankte, aber er kippte nicht um.
»Das ist der Dreckskerl!«, rief Elli. »Verhaften Sie ihn, Herr Wachtmeister.«
»Oder besser noch …«, ergänzte Blue rachsüchtig, »lassen Sie mich nur fünf Minuten mit ihm alleine und rufen Sie schon mal den Krankenwagen.«
Leon war froh, verhaftet zu werden. Der junge Polizist mit dem Schnauzbart stellte allerdings fest, dies sei keine Verhaftung, sondern eine Festnahme.
Sein Kollege, dem diese Spitzfindigkeiten auf den Keks gingen, stöhnte: »Ja, ja, ist ja gut.«
Leon sah noch kurz zum Baum hoch, doch Maik war schon lange nicht mehr da.
Leon wollte so viel erklären, aber etwas machte ihn stumm.
Er ahnte, wie unwahrscheinlich seine Geschichte klang, und diesmal brach er voll ins Eiswasser ein und fand sich unter der geschlossenen Eisdecke wieder. Über ihm nur Weiß. Um ihn nur Kälte. Kein Ausweg und kein Loch in Sicht. Von nirgendwo Hilfe zu erwarten. Es war ein Gefühl wie langsames Sterben. Die Gelenke wurden steif. Die Finger, die Füße und die Lippen taub.
Er ergab sich. Es war eine vollständige Kapitulation. Sollten sie doch mit ihm machen, was sie wollten. Die Todesstrafe war ja zum Glück abgeschafft.
Ich habe versagt, dachte er. Mehr noch, ich habe mich blamiert, und jetzt weiß Maik alles. Ich bin geliefert.
46
Aus rein kriminalistischer Sicht hatte Kommissarin Schiller recht, und Büscher war selbstkritisch genug, um sich zu fragen, warum er nicht in eine andere Richtung ermitteln wollte. Er sammelte lediglich Beweise gegen Holger Schwarz und blickte, wie Löckchen ihm vorwarf, weder nach rechts noch nach links. Vielleicht lag es daran, dass in seiner Berufspraxis fast alle Morde von den nächsten Verwandten begangen worden waren.
Trotzdem verstand er sich selbst nicht. Kam sich merkwürdig verbohrt vor und betrachtete doch Schillers Tun mit Skepsis. Er wartete nur auf ihr Scheitern.
Am Ende würde Holger Schwarz aufgrund seiner wasserdichten Ermittlungen verurteilt werden, was eine große Genugtuung für ihn wäre.
Büscher verfolgte durch die große Trennscheibe die Befragung. Wenn er sich nicht täuschte, hatte Löckchen sich extra schick gemacht. Wollte sie den jungen Womanizer beeindrucken?
Sie trug eine Halskette aus bunten Glassteinen, die ein bisschen so aussah, als hätte ein Kind sie aus geschmolzenen Legosteinen gebastelt, ein strahlend weißes T-Shirt und darüber eine hellblaue Tunika aus Leinen. Ihre weite Hose war aus dem gleichen Material. Heute hatte Schiller etwas Strahlendes an sich, fand Büscher.
War sie frisch verliebt, oder was hatte sich geändert?
Jörg Parks dagegen wirkte zerknirscht. Er erinnerte Büscher an eine sturmreif geschossene Festung. Es verteidigten sich in den Ruinen noch halbherzig ein paar Übriggebliebene, aber nur, um möglichst gute Bedingungen für einen Waffenstillstand auszuhandeln. Den Glauben an einen Sieg hatten sie längst aufgegeben.
Ja, bei genauer Betrachtungsweise war es durchaus möglich, dass Jörg Parks doch noch ein Geständnis ablegen würde. Nur leider sagte Parks gar nichts, sondern ließ seine Anwältin, Clara Vogt, reden. Sie trug Kleidergröße 36. Höchstens. Vielleicht sogar weniger.
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