Nachtblauer Tod
des Baumes, aber der Fotoapparat glänzte metallen in der Nacht.
Leon drückte sich an den Rauputz der Hauswand. Hatte Maik ihn gesehen? Leon wagte kaum zu atmen. Er hielt sich die Hände schützend vors Gesicht, denn er konnte sich gut vorstellen, dass das Mondlicht sein Gesicht glänzen ließ, außerdem war das Weiße in seinen Augen bestimmt verräterisch.
Was mache ich jetzt am besten, fragte Leon sich. Er war noch nie zuvor im Leben in so einer Situation gewesen.
Soll ich die Menschen drinnen warnen?
Einfach schreien?
Die Polizei rufen?
Am liebsten hätte er Maik vom Baum geschüttelt und ihm ein paar auf die Nase gedonnert.
Bilder jagten durch Leons Kopf. Maik auf dem Balkon zwischen den Kräutern und Gewürzen. Er fotografierte Leons Mutter. Sie zog sich gerade ihre bequemen Bettsachen an, in denen sie so gerne las. Vielleicht öffnete ein Windstoß die Tür. Vielleicht hörte sie den Motor der Kamera. Sie begann zu schreien, resolut, wie sie war, konnte es sogar möglich sein, dass sie auf den ungebetenen Gast losgegangen war. Auf jeden Fall geriet er in Panik. Es kam zum Kampf, und er erstach Leons Mutter.
Ja, so oder so ähnlich musste es gewesen sein.
Hatte Maik auch diese Frau Leineweber begafft?
War er der Voyeur, der hier in Bremerhaven nachts auf die Pirsch ging?
War der Mord kein geplantes Verbrechen gewesen, sondern ein aus der Entdeckung entstandenes Vertuschungsdelikt?
Wie würde Maik reagieren, wenn er jetzt hier in flagranti überführt werden würde?
War ihm ein weiterer Mord zuzutrauen?
Leon wusste nicht, was er tun sollte. Die Situation überforderte ihn total. Er ahnte, wie dünn das Eis unter ihm war, aber es brach nicht. Die weiße Fläche glänzte und knirschte, aber sie trug ihn.
Wenn ich das der Polizei erzähle, glaubt mir keiner. Der Büscher sowieso nicht, dachte er. Wenn ich jetzt laut schreie und die Menschen aufmerksam mache auf den Spanner im Kirschbaum, ist er weg, bevor irgendjemand hier ist, und ich habe nur mich selbst verraten. Wie soll ich mit ihm weiter in einem Haus zusammenleben, wenn er weiß, dass ich alles weiß?
Nein, Leon entschied sich, zunächst gar nichts zu tun. Er wusste jetzt, was Maik für einer war. Er musste ihn ganz in Ruhe beobachten, um ihn dann schließlich glasklar überführen zu können.
Der Fotoapparat mit den gespeicherten Bildern zum Beispiel, das wäre so ein Beweismittel. Im Haus der Fischers gab es bestimmt eine Gelegenheit, den Speicherchip auszutauschen. Ob der Beweis Kommissar Büscher ausreichte?
Aus seiner Position heraus konnte Leon nicht sehen, wen oder was Maik belauerte und fotografierte. Auf jeden Fall versuchte er, durch das Fenster im ersten Stock oder gar durch die Dachfenster zu knipsen. Hier unten war für ihn wohl kaum etwas zu holen. Leon fand es wenig wahrscheinlich, dass Maik es auf den glatzköpfigen Rotweintrinker abgesehen hatte.
Leon sah sich nach einer erhöhten Position um. Er konnte schlecht ebenfalls in den Kirschbaum klettern, aber das Garagendach lag günstig, und als sich eine Wolke vor den abnehmenden Mond schob, nutzte Leon die Dunkelheit, um mit einem Klimmzug aufs Garagendach zu kommen.
Von hier aus konnte er das hell erleuchtete Dachfenster sehen, aber es gelang ihm nicht, hineinzuschauen. Dazu musste er höher steigen. Er versuchte es bei den Kletterrosen.
Es sah zunächst sehr gut aus. Das Rosengitter war wie eine Leiter für ihn. Aber dann merkte er, dass Rosen Stacheln haben. Sie rissen sein Hemd auf und verhakten sich in den Jeans. Es war plötzlich, als ob er sich in einer Schlingpflanze verfangen hätte. In seiner Phantasie griffen die Rosenzweige nach ihm wie die Arme eines Kraken.
Er stöhnte und atmete schwer. Eigentlich wollte er lautlos sein, doch er hatte das Gefühl, einen höllischen Lärm zu veranstalten. Er traute sich nicht, höher zu klettern, aber er kam auch nicht so einfach wieder runter auf die Garage.
Er hing fest. Seine rechte Hand blutete schon.
Er schielte zu Maik. Der war keine dreißig Meter Luftlinie von ihm entfernt. Gerade änderte er seine Position. Er lag jetzt auf einer dicken Astgabel, wie eine fette Anakonda, die sich anschleicht und ihr Opfer belauert.
In dem Moment brach das Rosengitter unter Leons Gewicht zusammen. Ein langer Zweig peitschte durch sein Gesicht und riss die Haut auf. Dann krachte Leon in den Vorgarten. Er blickte in den Sternenhimmel, als er stürzte. Dann verlor er das Bewusstsein.
Als er wach wurde, hörte er zunächst
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