Nachtblauer Tod
Außerdem sei ja jeder gefragt worden und keiner dagegen gewesen.
»Pah – Johanna!«, sagte Ben und schielte zu ihr rüber, denn es machte ganz den Eindruck, als hätten sich die Fronten verschoben. Inzwischen war nur noch Johanna für Leon, alle anderen waren gegen ihn. Sie hoffte immer noch, es könne eine – wie auch immer geartete – Erklärung für alles geben, aber Maik machte ihre Hoffnungen zunichte.
Er war blass, Bartstoppeln glitzerten silbriggrau in seinem Gesicht. Sein weißes Hemd war frisch gebügelt. Der Kragen steif, aber die ersten zwei Knöpfe hatte er nicht geschlossen, sodass der Ansatz von seinem Feinrippunterhemd sichtbar war und die paar Brusthaare ebenfalls.
Er gestikulierte beim Reden wie ein arabischer Märchenerzähler. Seine Theorie war schlüssig, und er trug sie ohne jeden Vorwurf, ja sogar mit einem gewissen Verständnis für Leon vor.
»Was Leon getan hat, ist natürlich nicht zu entschuldigen. Aber ihr müsst bedenken, seine Mutter wurde ermordet. Sein Vater sitzt im Gefängnis. Er kommt damit natürlich nicht klar. Er hat die fixe Idee, seinen Vater befreien zu wollen. Nun – offen gestanden – das hat ihn mir sogar sympathisch gemacht. Das Problem ist aber, er glaubt zwar fest an die Unschuld seines Vaters, kann die aber nicht beweisen. Also beginnt er, Beweise zu türken. Erst hackt er sich in den Computer vom Geliebten seiner Mutter ein – diesem Parks – und Bingo!«, Maik klatschte seine Hände gegeneinander, »er sticht in ein Wespennest. Der Kerl hat seine Mutter ausgenommen und noch ein paar andere Freundinnen am Start. Von meinem Computer aus hetzt Leon die Frauen gegeneinander, indem er jeder – scheinbar versehentlich – E-Mails der anderen schickt. So erfahren sie voneinander und machen Jörg Parks die Hölle heiß. Das ist für den zwar unangenehm, macht ihn aber für die Polizei nicht zu einem Mörder. Da beschließt Leon, die Spannertheorie zu verfolgen.«
Ulla Fischer löste ein Aspirin in einem Glas Wasser auf und stierte fast meditierend auf die immer kleiner werdende Sprudeltablette. Sie sah um Jahre gealtert aus, fand Johanna. Bisher hatte sie sich neben ihrer Mutter immer für ein hässliches Entlein gehalten. Das änderte sich gerade.
Weil alles so verwirrend war, klammerte Johanna sich an diesen Gedanken. Je mehr alle auf Leon herumhackten, je monströser seine Schuld wurde, umso mehr hielt sie zu ihm. Sie musste sich eingestehen, dass sie verliebt in ihn war. Ja, verdammt, genau das war sie.
Die Worte sprudelten nur so aus Maik heraus, doch er wählte sie zu sorgfältig, fand Johanna. Das machte sie misstrauisch. Seine Rede klang gut vorbereitet, fast als hätte er sie vor dem Spiegel eingeübt.
»Er begann also, sich einen neuen Täter auszugucken. Mich. Er schlief in meinem Hobbyraum. Er hatte freien Zugang zu meinem Computer. Er legte eine Beweisspur, die mich ins Gefängnis bringen sollte.«
»Du dämonisierst ihn!«, fuhr Johanna Maik an, aber der Vorwurf berührte ihn nicht.
»Nein, im Gegenteil, ich habe Verständnis für ihn. Ja, so irre es klingt, ich kann nachvollziehen, was er getan hat.«
»Bist du nicht sauer auf ihn?«, fragte Ben.
»Er liebt seinen Vater«, antwortete Maik. »Daran kann ich nichts Schlimmes finden. Der Gute hatte von Elisabeth Fels erfahren, die sich beobachtet fühlte und Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatte. Also zog Leon los, fotografierte sie nachts heimlich und versteckte die Bilder auf meinem Laptop. Bei einer dieser Aktionen fiel er ja bekanntlich vom Dach.«
»Und die Bilder von Jessy?«, wollte Ben wissen.
Ulla Fischer trank gierig ihr Aspirin, legte dann den Kopf in den Nacken und rollte ihn hin und her. Sie war völlig verspannt.
»Das war ein Leichtes für ihn. In meinem Zimmer war das ganze Material. Die Überwachungskameras und …« Er winkte ab. »Wer weiß, was der noch aufgenommen hat …« Er zeigte erst auf Johanna, »vielleicht gibt es auch Bilder von dir …«, und dann auf Ulla, »… oder von dir?«
»Jetzt hör aber auf!«, protestierte die und schüttelte sich angewidert.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Ben. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass sein Freund Leon sie alle so hintergangen hatte.
»Keine Ahnung«, sagte seine Mutter und reckte sich. »Vielleicht sitzt er inzwischen selbst im Gefängnis. Jedenfalls kann er hier nicht mehr wohnen.«
»Bis zur Mordnacht war Leon ein ganz normaler Kerl. Mein Kumpel halt. Mein bester Freund. Wir zeigen ihn
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