Nachtblauer Tod
Kaffee.
Das frisch verliebte Pärchen in der Ecke hatte sogar beim Händchenhalten mit dem Liebesgeflüster aufgehört, um auch ja alles mitzukriegen.
»Na? Spannend?«, giftete Büscher in ihre Richtung.
Sofort drehten sie sich wieder so, als hätten sie nie Augen und Ohren für etwas anderes gehabt als die Beschäftigung mit sich selbst.
Büscher sprach mit unveränderter Lautstärke weiter. »Dann sind da auch noch heimlich aufgenommene Fotos von einer nackten jungen Frau, die Wäsche aufhängt oder so …«
Jessy, dachte Leon. Auch das noch. Maik tut jetzt also so, als hätte ich die Fotos gemacht. Er schiebt mir seine Schandtaten unter.
»Sie steht vor einem weißen Laken«, hörte Leon sich selbst sagen. Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor, künstlich, wie von einem Anrufbeantworter.
Leon rechnete damit, jeden Moment könnten sich Handschellen um seine Gelenke schließen.
Ist das ein Scherz des Schicksals?, fragte er sich. Gibt es da oben irgendwo einen Gott, der über diesen schlechten Witz lachen kann?
Hole ich am Ende meinen Vater aus dem Gefängnis und muss selbst hinein?
Aber dann ging es anders weiter, als er erwartet hatte.
Frau Müller-Felsenburg sagte sanft: »Ich glaube, unter den gegebenen Umständen ist es keine ganz so gute Idee, dass du zu den Fischers zurückgehst. Ich habe einen freien Platz im Betreuten Wohnen . Da kannst du fürs Erste bleiben.«
Sie bemerkte Leons Erstaunen, deutete es aber falsch. »Das ist eine Einrichtung der Jugendhilfe. Ein Haus am Stadtrand. Sechs Jugendliche wohnen dort. Eine sehr nette Sozialarbeiterin betreut die Gruppe. Da gibt es viele Freizeitaktivitäten. Es wird zusammen gekocht und …«
»Ich weiß«, sagte Leon, »bei euch sind immer alle furchtbar nett.« Es war ironisch gemeint, aber entweder verstand Marianne Müller-Felsenburg die Ironie nicht, oder sie tat zumindest so.
Büscher zählte an den Fingern die Bedingungen auf: »Damit das klar ist, Bürschchen. Du hältst dich von der Familie Fischer fern. Insbesondere ist dir der Umgang mit Johanna Fischer verboten. Du machst einen Riesenbogen um das Haus der Parks. Du hackst in keinen Computer und hörst auf, Detektiv zu spielen. Wenn du auch nur in der Nähe von Elisabeth Fels gesehen wirst, atmest du gesiebte Luft. Du hältst dich ständig zu unserer Verfügung. Wenn ich dich sprechen will und es ein Problem gibt, weil dein Scheißhandy nicht geht oder du sonstwie unerreichbar bist, schreibe ich dich augenblicklich zur Fahndung aus. Ist dir klar, was das bedeutet?«
Leon wusste es nicht genau, und er fragte sich auch, ob das überhaupt ohne richterlichen Beschluss möglich war, aber er traute Büscher eine Menge zu, denn er spürte, wie aufgeregt und entschlossen der Kommissar war.
Büscher unterstrich diesen Eindruck noch, indem er betonte, er habe die Schnauze inzwischen gestrichen voll.
Leon putzte seine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. »Ich werde keinen Mist bauen«, sagte er kleinlaut, und dieser Satz stoppte die rasenden Bilder. Das Schwindelgefühl ließ nach. Es ging ihm besser, und er atmete tief durch. Er überlegte, zur Toilette zu gehen und von dort zu türmen, aber er wusste nur zu gut, dass er dazu im Moment nicht in der Lage war.
Immerhin, Betreutes Wohnen hörte sich besser an als Jugendknast, und zu Fischers konnte er ja nun wirklich nicht zurück.
Er fragte sich, was Ben über ihn dachte. War der noch sein Freund?
Und was war mit Johanna?
48
Bei Fischers tagte die Familienkonferenz. Jeder hatte hier das Recht, so eine Krisensitzung zu beantragen. Sie hatten sich irgendwann darauf geeinigt. Es hörte sich fortschrittlich an, und Maik nannte es eine wichtige Übung in Demokratie und freier Meinungsäußerung.
Ulla Fischer fand, dass es im Rahmen der Familie Sicherheit gab. Hier sollte »nichts unter den Teppich gekehrt werden, bis er Falten wirft«. Sie hatten sich damals, als Maik bei ihnen einzog, darauf geeinigt, jeder dürfe frei zu seinen Ansichten stehen und könne die Familienkonferenz einberufen. Sie hatten sich das alle hoch und heilig versprochen, aber nur zweimal davon Gebrauch gemacht.
Einmal, als es um den Mallorcaurlaub ging und Johanna nicht mitwollte, weil sie keine Lust hatte.
Beim zweiten Mal ging es um die Verteilung von 7421 Euro, die nach Omas Beerdigung als Erbe übrig geblieben waren.
Jetzt fragten sich alle, warum es bei Leons Einzug keine Familienkonferenz gegeben hatte. Ulla Fischer erklärte es mit der hektischen Situation.
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