Nachtblind
ihm. Ich nahm ihn nicht einmal wahr, wenn er direkt vor mir stand. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, dass so ein mieser Typ aus ihm geworden ist. Ich kann nichts dafür. Er will gern Kofferträger bei hübschen Mädchen sein, und genau das macht er dann auch.«
»Klingt tatsächlich mies«, kommentierte Lucas.
»Er selbst findet das offensichtlich nicht.« Sie saßen schweigend eine Weile da, dann sagte Jael: »Marcy und Sie hatten ein Verhältnis, nicht wahr?«
»Ja, sechs Wochen oder so. Es war ein wenig zu intensiv.«
Sie sah ihn aufmerksam an. »Was haben Sie gegen Intensität? Andere Leute verbringen ihr ganzes Leben ohne Intensität. Sie sehnen sich danach.«
»Wie ich sagte, es war ein wenig zu intensiv. Wir steuerten auf eine Katastrophe zu.«
»Sie meinen, dass Sie sie beim Sex erwürgt hätten oder so was?«
»Nein. Aber etwas Böses lag auf der Lauer, und wir hätten uns eines Tages gehasst. Das aber wollten wir nicht, wollten es nicht riskieren.«
»Sie hängt immer noch irgendwie an Ihnen«, sagte Jael. »Wissen Sie, was Spaß gemacht hätte? Wenn wir drei uns zusammengetan hätten …«
Sie sagte das so beiläufig, dass Lucas weder überrascht noch verlegen war. Er sagte: »Dafür bin ich ein wenig zu katholisch. Marcy würde es genauso gehen.«
»Oh, das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht, was Marcy angeht. Ich glaube, sie würde sich für diesen Gedanken interessieren.«
»Tatsächlich?« Jael hatte das mit einer gewissen Sicherheit gesagt, und nun war er überrascht. Er sah sie fragend an.
»Nein, nein, Marcy und ich haben keine schlechten Spielchen miteinander getrieben«, sagte Jael. »Wir hatten ja kaum Gelegenheit, überhaupt einmal miteinander zu reden. Aber man erkennt Menschen, die sich gerne Gefühlen hingeben. Marcy ist so wie wir.«
»Wie wir? Sie meinen, sie sei ein bisschen lesbisch?«
»Nein, nein, das meine ich überhaupt nicht. Sie ist wie wir beide – ein Gefühlsmensch. Dass Sie das sind, weiß ich von den Gesprächen mit Ihnen und von der Art, wie Sie Frauen ansehen.«
»Wir sollten dieses Thema besser nicht vertiefen«, sagte Lucas.
»Ja, sicher …«
»Es macht mich sehr nervös.«
»Das liegt am Katholiken in Ihnen«, sagte sie. »Sie haben wahrscheinlich Ihr ganzes Leben dagegen angekämpft.«
»Mag sein«, sagte er.
»Wissen Sie«, sagte sie später, »ich habe ein wenig Angst.«
»Ich weiß. Das ist verständlich – und kann nichts schaden.«
»Die Art, wie Amnon ermordet wurde … Er hatte wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr, noch irgendwas zu sagen.«
»Der Killer ist ein Irrer. Er ist jedoch keine unantastbare Macht. Wir haben ihn nur noch nicht aufgespürt. Aber wir werden das über kurz oder lang schaffen.«
»Bald, hoffe ich. Ich mag es nicht, eingepfercht zu sein. Ich überlege, ob ich mich nach New York absetzen soll, sobald Amnons Angelegenheiten geregelt sind.«
»Sie könnten das Ihrem Vater überlassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dad … wäre dazu nicht fähig.«
»New York ist kein schlechter Gedanke«, sagte Lucas. »Aber Sie hätten dort keinen Schutz.«
»Ich könnte in irgendein Hotel gehen. Wie könnte der Killer mich dort finden?«
»Na ja, jedenfalls wäre es eine Überlegung wert«, meinte Lucas.
Lucas ging, und unten im Erdgeschoss fragte ihn Hutton: »Na, was Neues gelernt?«
Das war zweideutig gemeint, und Lucas reagierte entsprechend: »Ein wenig mehr, als ich überhaupt wollte«, sagte er.
Auf dem Weg nach Hause rief er im St. Anne’s College an und ließ sich Elle geben. »Ich weiß, es ist kalt, aber ich würde dich gern zu einem Eis einladen.«
»Für ein Eis ist es nie zu kalt«, sagte sie. »Ich gehe rüber und warte auf dich.«
Die Eisdiele lag gegenüber dem College und war als Nonnen-Treffpunkt bekannt. Elle saß mit drei anderen Nonnen in einer Nische im Eingangsbereich, und als Lucas hereinkam, sagte sie lachend etwas zu ihren Mitschwestern, stand dann auf und ging ihm voraus zu einer Nische im hinteren Teil – eine Szene, ging Lucas durch den Kopf, die sich in diesem Moment millionenfach in Lokalen abspielt, bis auf den Geruch nach verschütteter Milch und, natürlich, der Anwesenheit von Nonnen.
»Habt ihr einen Durchbruch erzielt?«, fragte sie, fügte hinzu: »Ich habe bei Jim eine Schokoladen-Malzmilch für dich bestellt.«
»Sehr schön … Wir verfolgen zwei Spuren. Ich glaube, wir haben den Mörder Alie’es ausfindig gemacht, und wir haben zwei Leute, auf die
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