Nachtblind
angesehen, als sie im Griff des Killers auf ihn zugetaumelt kam, voller absurder Hoffnung auf Gnade für ihren Geiselnehmer, der letztlich kein ganz schlechter Mensch zu sein schien – das alles in wenigen Sekunden, und in der nächsten Sekunde war ihr das Gehirn des Mannes, vermischt mit Knochensplittern, über das Gesicht gespritzt.
Sie war Chirurgin, und weder Blut noch der Tod waren ihr fremd; auch war sie nicht übertrieben sensibel. Aber diese Sache überstieg das Maß des Erträglichen, und als alles vorbei war, war sie nicht mehr fähig gewesen, mit Lucas zu sprechen. Sie hatte gewusst, dass das ein psychischer Reflex war, eine Art Phobie, ein mentaler Tick, aber dieses Wissen war nicht hilfreich. Sie löste sich von Lucas, besser gesagt, sie brach abrupt die Beziehung ab. Lief davon. Rannte von ihm weg. Hasste ihn nicht, konnte ihn jedoch nicht mehr in ihrer Nähe ertragen. Und hörte/sah/spürte unentwegt die Auswirkung der Kugel, die das Gehirn des Mannes zerfetzt hatte, knapp zehn Zentimeter von ihrem eigenen entfernt …
Aber, dachte Lucas, die Zeit heilt Wunden.
Die Zeit vergeht … Er schloss die Augen in der Dunkelheit. Und sah das Narbengesicht und die aufreizenden Augen Jael Corbeaus vor sich; das leicht pausbäckige, angespannte Gesicht Catrins; die kräftigen Schultern, die ein wenig zu große Nase Weathers – und das Gefühl , das von ihr ausging.
Die Zeit vergeht, aber während sie das tut, prügelt sie manchmal ganz schön auf einen ein …
20
Mittwoch. Der fünfte Tag des Alie’e-Maison-Falles.
Lucas sah nach Marcy Black hing auf einem Besucherstuhl vor der Tür des Krankenzimmers, rappelte sich hoch, als er Lucas kommen sah. Er war unrasiert und ein wenig wackelig auf den Beinen. »Alles okay Sie ist zum ersten Mal aufgewacht. Ist zwar gleich wieder weggetreten, aber die Schwestern sagen, sie würde sich langsam durchkämpfen und heute noch richtig aufwachen.«
Lucas sah ins Zimmer. Marcy war im Department immer die aktivste Person, regte immer irgendetwas an, setzte etwas in Bewegung. Es passte gar nicht zu ihr, da reglos im Bett zu liegen. Sie sah dünner aus, hagerer, fast ausgezehrt. Lucas klopfte Black auf die Schulter und sagte: »Nimm’s leicht.«
Die Zentrale der Atheneum State Bank lag an der University Avenue, drei Blocks vom State Capitol Building in St. Paul entfernt. Es handelte sich um ein rotes Backsteingebäude mit vier weißen Holzpfeilern an der Straßenseite. Die Gegend hatte an Prestige gewonnen, als die Pornokinos und die Prostituierten nach Westen abgedrängt wurden, weg von den Abgeordneten des Staates Minnesota im Kapitol. Der Aufwärtstrend war dann aber stecken geblieben, und die ganze Gegend machte inzwischen wieder einen schäbigen, heruntergekommenen Eindruck – wie ein zerdrückter Pappbecher vor einem Schnellimbiss.
Die Abhöreinrichtungen für Rodriguez’ Telefone – eines in seinem Haus, zwei im Büro, sein Handy – waren geschaltet, ebenso für das private Telefon und das Handy von Bill Spooner, einem stellvertretenden Vizepräsidenten in der Kreditabteilung der Bank.
Lucas und Del fuhren in einem recht schäbigen Dienstwagen zur Bank, gefolgt von Tim Long, einem der Stellvertreter des County-Staatsanwalts. Vom Parkplatz aus rief Lucas bei Rose Marie an. Sie hatte bereits auf den Anruf gewartet, telefonierte nun ihrerseits mit dem Präsidenten der Bank und bat ihn, Lucas zu einem kurzen Gespräch zu empfangen. Kurz darauf meldete sie sich wieder: »Er erwartet Sie. Seien Sie ein wenig vorsichtig: Er ist einer dieser plump-vertraulichen Typen, die stets bereit sind, Politikern ihre Hilfe anzudienen und sie dann, falls sie sie annehmen, unentwegt daran erinnern.«
Lucas sagte zu Del: »Sieh zu, dass du Spooners Wagen findest.«
Del nickte. »Reiß den Kerl in Stücke.«
Lucas und Long gingen in das Gebäude und meldeten sich bei der Sekretärin des Präsidenten. Sie eilte in sein Büro, kam eine Minute später wieder heraus, gefolgt vom Präsidenten höchstpersönlich. »Schon da? Rose Marie hat mich doch erst vor ein paar Minuten angerufen.«
»Wenig Verkehr«, erklärte Lucas.
Der Name des Präsidenten war Reed. Er war ein freundlicher Mann, hatte einiges Übergewicht und verfügte auch ansonsten über die Insignien des patriotischen amerikanischen Managers: rotes Gesicht, weißes Haar, blaue Augen; rote Krawatte, weißes Hemd, dunkelblauer Anzug; die Fahne der Vereinigten Staaten in einer Ecke mit einem
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