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Nachtblind

Nachtblind

Titel: Nachtblind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Sandford
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unserer Gemeinde sind, möchte ich ein paar Worte zu Reverend Olsons Konzept des Einfachen sagen …
    Es gibt keine Kirche mit diesem Konzept, keine Organisation auf dieser Basis, und es wird nirgends dafür Geld gesammelt. Wenn Sie das Gefühl haben, Sie könnten ein einfaches Leben führen, und wenn Sie sich darum bemühen wollen, dann machen Sie sich eine solche Weste. Oder machen Sie sich keine Weste, wenn Sie das nicht wollen. Einige von uns finden es leichter, sich eine Weste zu nähen und sie zu tragen – als ständige Gedächtnisstütze an das, was sie bewegt. Aber eines muss klar sein: Die Frauen dürfen keine Westen für ihre Männer nähen. Die Männer sollen sie sich selbst schneidern, und wenn sie damit nicht zurechtkommen, dann können ihnen die Frauen ja zeigen, wie es gemacht wird. Die Weste wird Ihnen nicht die Erlösung bringen, sie ist ja nur ein Stück Stoff. Aber Sie werden entdecken, dass sie Sie sehr, sehr warm hält … Auf der Rückseite des Lieder-Blattes finden Sie eine Zeichnung, einen Musterbogen, wie man die Weste schneidern kann.«
    Das Rascheln von Papier war zu hören, als die Zuhörer das Blatt umdrehten, und der Mann fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Wenn Sie ein Lied singen wollen, heiße ich Sie dazu herzlich willkommen. Wem es zu warm hier drin ist, darf gerne kurz nach draußen gehen … Lassen Sie uns dann mit ›You Are My Sunshine‹ beginnen, und die Sänger werden gebeten, diejenigen durchzulassen, die zum Luftschöpfen nach draußen gehen möchten.«
    Ein Teil der Leute setzte sich zum Ausgang in Bewegung, und Lucas nahm Jael am Arm und führte sie nach draußen auf den Kirchhof. »Ich denke, was uns da geboten wurde, war das Geld wert«, sagte Jael und sah zurück zur Kirche. Der erste Vers von ›You Are My Sunshine‹ drang aus der Tür.
    Lucas schaute auf das Papier in seiner Hand. »Das sind alles keine religiösen Lieder«, sagte er. »Eher althergebrachte Volkslieder.«
    »Willst du wieder reingehen und mitsingen?«, fragte Jael.
    »Nein. Mir reicht’s für heute Abend.«
    »Mir auch. Als er anfing, über Plain zu reden, war das für mich, als ob ich unter Strom gesetzt würde.« Sie gingen zum Wagen, stiegen ein. Und sie sagte: »Ich weiß, es klingt wie diese Hollywood-Scheiße, von der Olson uns wegbringen will, aber … er ist gut. Er ist wirklich gut darin, was er da macht. Schon allein sein Aussehen – wie ein klobiger kraftvoller Hinterwäldler, und dann die Stimme …«
    »Wirst du dir eine Weste schneidern?«, fragte Lucas.
    »Es ist was dran, was er sagt«, meinte Jael. »Besonders unter dem Aspekt, dass man sich nicht verpflichten muss, am großen Marsch der Christenheit durchs Himmelstor teilzunehmen. Die Art, wie er es ausgedrückt hat, war überzeugend – jeder kann ein einfaches Leben führen. Unter den Töpfern gibt es auch einen Trend zum Einfachen.«
    »Aber es ist zu spät«, sagte Lucas. »Heutzutage ist Einfachheit ein Luxus, den sich die meisten von uns nicht leisten können. Wie zum Beispiel teure Meisterwerke der Töpferkunst.«
    Während der Fahrt fragte sie: »Glaubst du, dass diese Blutung ein Trick war? Dass er sich irgendwie unbemerkt Schnitte beigebracht hat?«
    »Nein – es sei denn, er ist der größte scheinheilige Scharlatan auf dieser Erde, und diesen Eindruck macht er nicht auf mich.«
    »Aber wenn er tatsächlich der größte scheinheilige Scharlatan wäre, würde er es ja verstehen, dich zu täuschen.«
    »Nun, ich weiß auch nicht … Aber ich will dir was sagen: Ich habe ihn hinstürzen sehen – ohnmächtig oder im Zusammenhang mit irgendeinem Anfall –, nachdem seine Eltern getötet worden waren, und das hat er nicht vorgetäuscht. Das heute Abend war so was Ähnliches. Für mich sah das echt aus.«
    »Also ist er verrückt?«
    »Das hängt davon ab, wie du ›verrückt‹ definierst«, sagte Lucas. »Es laufen ein paar echte Ekstatiker da draußen herum, und offensichtlich ist er einer von ihnen. Vielleicht sind sie alle verrückt, aber das kann ich nicht beurteilen.«
    »Du glaubst nicht, dass er Plain getötet hat«, sagte Jael.
    »Es gibt ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass er es getan hat.«
    »Ich habe dir keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung getroffen«, sagte Jael. »Ich weiß, dass es diese Hinweise gibt, aber ich weiß auch, dass du nicht glaubst, er sei der Täter.«
    »Das ist nicht richtig. Ich halte es für möglich, dass er es getan hat. Aber das … Wesen, das es getan hat, ist nicht

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