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Nachtblind

Nachtblind

Titel: Nachtblind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Sandford
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und fragte flüsternd: »Siehst du die Frauen?«
    »Welche Frauen?«
    »Die in den dunkelblauen Westen.« Sie deutete mit dem Kinn nach vorne.
    Lucas brauchte einige Sekunden, um sie auszumachen: Ein halbes Dutzend Frauen war damit beschäftigtem den vorderen Reihen Papierblätter zu verteilen; sie blieben immer wieder stehen, sprachen mit den Besuchern, scherzten, lachten. Lucas sah auch zwei in blaue Westen gekleidete Männer, die dieselbe Arbeit verrichteten. »Auch zwei Männer«, flüsterte Lucas.
    »Siehst du den Typ in dem Parka? Er trägt darunter ebenfalls so eine Weste.«
    »Ach ja, den habe ich gar nicht gesehen …Sag mal, ich frage mich …«
    »Was?«
    »Ist das ein bestimmter Kult?«
    Lucas zuckte die Achseln. Das Licht wurde gedämpft. Eine der Frauen in den blauen Westen gab ihnen einen Stapel der Papierblätter und bat darum, sie in der Bankreihe durchzureichen. Sie behielten je ein Blatt zurück und gaben den Rest weiter. Lucas schaute im schwachen Licht auf den Inhalt des Ausdrucks: Texte eines halben Dutzends Lieder, auf der Rückseite eine undefinierbare Zeichnung. Er legte das Blatt auf den Schoß und schaute hoch, als Olson vorne hereinkam, auf ein Podium stieg und zur Begrüßung lauthals fragte: »Wie geht’s euch, Leute?«
    Einige Besucher riefen »gut« oder »prima«. Olson aber sagte: »Mir geht es nicht besonders gut. Wie viele von euch wissen, dass Alie’e Maison meine Schwester war? Hebt bitte die Hand.«
    Zwei Drittel der Leute hoben die Hand.
    »Ihr wisst also, dass meine Schwester ermordet wurde, dass meine Eltern ermordet wurden, und ihr wisst, dass ein Mann namens Amnon Plain ermordet wurde. Darüber möchte ich mit euch sprechen.« Er sprach über seine Schwester und seine Eltern; wie er und Sharon Olson mit den Eltern ein ruhiges, familiär orientiertes, meist störungsfreies Leben in Burnt River geführt hatten – bis auf die Tatsache, dass Alie’es Aussehen und ihre Talente diesen friedlichen Rahmen gesprengt hatten.
    »Ich wusste damals nichts von den Verlockungen der großen weiten Welt. Und selbst dort, in Burnt River, wo wir an Bächen spielten, wo ich mit Dad zum Angeln ging, wo meine Freunde und ich Schlachten mit faulen Äpfeln austrugen, wo wir uns mit Holzpistolen wilde Schießereien lieferten … Ich bin sicher, die meisten Männer unter euch haben das als Kids gemacht, wahrscheinlich auch so manches Mädchen, hmmm?« Eine Welle leisen Gelächters und zustimmenden Kopfnickens ging durch die Zuhörer. »In all diesem jugendlichen, kindlichen Frohsinn habe ich nicht erkannt, dass selbst dort das Böse seine Krallen nach uns ausstreckte. Krallen an langen Tentakeln, die von New York aus, von Los Angeles aus das Böse in unsere Köpfe einritzten, in die Köpfe von uns allen …«
    Lucas spürte ein leichtes Kribbeln auf seinem Rücken. Olson hatte eine tiefe, volltönende Stimme, und er verstand es, sie wirkungsvoll einzusetzen: Obwohl sie fast zu einem Flüstern herabsank und obwohl sie an jeden einzelnen Anwesenden individuell gerichtet zu sein schien, war sie doch laut und klar im ganzen Raum zu verstehen. Und er hatte diese untersetzte, stämmige Gestalt und den eckigen, mächtigen Kopf –körperliche Merkmale, die eine unterdrückte Gewaltbereitschaft bei ihm ahnen ließen.
    Er sprach über das Böse und darüber, wie es sich im Fernsehen, in den Kinofilmen, im Fastfood-Geschäft und im Internet verifiziert. »Ich bin ein wenig in der Welt herumgekommen. Ich war im Marine Corps, und ich habe als Militärpolizist am Strand von Subic Bay Streifendienst gemacht, auch an Zahltagen, wenn die Menschen den Versuchungen des Bösen besonders ausgesetzt sind. Ich kenne alle Schwierigkeiten, in die die Menschen durch Sex, durch Drogen, durch Gier und durch den Drang nach Besitz geraten können. Ich weiß, dass einiges von dem in uns allen steckt – aber ich weiß auch, wie man als Erwachsener dagegen ankämpfen kann. Vielleicht gewinnt man den Kampf nicht, aber man hat jedenfalls die Wahl, den Kampf aufzunehmen. Aber habt ihr, liebe Freunde, euch einmal persönlich mit dem neuesten Übel, dem Internet, das inzwischen an allen Schulen und in allen Bibliotheken verfügbar ist, beschäftigt? Habt ihr mal in dieses höllische Internet geschaut? Ich habe es getan – in einer Bibliothek, mit einem Bibliothekar, einem unserer Leute, als Lehrmeister. Und ich kann euch nur sagen, das Böse in diesem Internet ist unglaublich, schlimmer als alles, was einem in der Hölle von

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