Nachtblind
Abendessen am Freitag. Den Bentons und den Packards.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Sie sind übers Wochenende nach Hause gefahren.«
»Wie weit ist Burnt River entfernt?«, fragte Lucas.
»Fünf Stunden. Mit dem Wagen.«
»Haben Sie die Telefonnummern der Leute?«
»Ja, natürlich.«
»Ich möchte, dass Sie sie anrufen«, sagte Lucas. »Und wenn jemand antwortet, zum Beispiel Mrs. Benton, lassen Sie sich ihren Mann geben. Wenn Mr. Benton antwortet, müssen Sie sich was ausdenken, um seine Frau ans Telefon zu kriegen. Das Gleiche gilt für die Packards. Sagen Sie einfach, Sie wollten ihnen für den gewährten Beistand danken.«
»Das gibt mir das Gefühl, als ob ich Verrat an meinen Freunden begehen würde«, sagte Olson steif.
»Das ist es nicht, wenn sie zu Hause sind«, sagte Lucas.
»Ja, ich weiß …«
»Es geht hier um Mord«, sagte Del.
Olson führte die Gespräche vom Zimmertelefon aus; Lucas und Del hörten über den eingeschalteten Lautsprecher mit. Beide Paare waren zu Hause. »Sie kamen sowieso nicht in Frage«, sagte Olson.
»Sie haben es wirklich nur diesen vier Leuten erzählt?«, vergewisserte sich Lucas.
»Ja, nur diesen vier Freunden. Wir gingen vor ihrer Abfahrt noch über die Straße zu Perkins zum Abendessen. Das war kurz nach Einbruch der Dunkelheit am Freitag.«
Lucas dachte einen Moment nach. Burnt River, Burnt River … Konnte es sein, dass sie die Sache ganz falsch angepackt hatten? Oder teilweise falsch? Eine tiefe alte Verbindung, aber keine Familienbindung? Jemand, der Alie’e in den alten Tagen gekannt und geliebt hatte, jemand, der … Er griff zum Telefon und rief Lane an: »Du hast doch diese tollen Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen aufgelistet … Wie hieß noch mal dieser Bursche, der Alie’e auf dem Baseballfest gebumst hat?«
»Moment, ich schau mal nach«, sagte Lane. »Louis Friar«, meldete er sich einige Sekunden später. »Die Leute da oben nennen ihn Reverend, aber er selbst weiß nicht, woher der Spitzname kommt.«
»Danke. Ich hab’s eilig. Wir sehen uns morgen.« Lucas wandte sich wieder an Olson: »Wer ist Louis Friar?«
»Ein Mann oben in Burnt River.«
»Kennen die Bentons oder die Packards ihn?«, fragte Lucas.
»Ja. Jedenfalls seine Eltern. Louis’ Eltern und meine Eltern und die Bentons und die Packards und noch einige andere Leute bilden einen Freundeskreis, der sich regelmäßig trifft. Zum Kartenspiel und so was.«
»Friar hatte mal eine sexuelle Beziehung zu Alie’e.«
»Das ist nur ein Gerücht.«
»Aber jeder in Burnt River glaubt es. Denkt, es sei tatsächlich so gewesen.«
»Ja, das weiß ich«, bestätigte Olson.
»Meinen Sie, er könnte so was wie beschützende Gefühle für sie empfinden? Meinen Sie, er könnte …«
»Nein, nein … Er ist ein ganz einfacher Mensch. Betreibt einen Garten-Service. Fährt rum und mäht Rasen, betreibt Landschaftspflege für die Stadt.«
»Ist er verheiratet?«, fragte Del.
»Nein.«
»Jäger?«
»Wahrscheinlich. Aber ich kenne ihn nicht sehr gut. Er war mehrere Jahrgänge nach mir an der Schule.«
Lucas griff wieder zum Telefon, rief Rose Marie an. »Verständigen Sie den Flugplatz«, sagte er. »Autorisieren Sie den Einsatz des großen Hubschraubers. Wir müssen nach Burnt River, sofort, heute Abend noch. Drei Passagiere.«
»Glauben Sie, Sie könnten in den fünfzehn Stunden den Durchbruch schaffen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ich drücke mir selbst die Daumen«, antwortete Lucas.
»Fahren Sie los. Ich rufe den Flugplatz an.«
28
Lucas kam es vor, als sei es drei Uhr morgens und er schon seit ewigen Zeiten auf den Beinen, aber als der Hubschrauber mit Lucas, Del und Olson auf den hinteren Sitzen abhob, war es erst einige Minuten vor zweiundzwanzig Uhr. Noch vor dem Start rief Lucas beim Sheriff-Büro des Howell County an, wurde mit dem Sheriff in seinem Haus verbunden, gab ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse und bat darum, auf dem Flugplatz von Sheridan, der Burnt River am nächsten lag, abgeholt zu werden. Der Sheriff sagte, er werde selbst kommen und noch einen zweiten Streifenwagen mitbringen. »Endlich mal was Interessantes«, sagte er.
Der Flug dauerte nur etwas mehr als eine Stunde. Lucas ertrug ihn mit Gelassenheit; in Flugzeugen wurde er stets von schlimmer Flugangst gepackt – wenn sie abstürzten, endeten die Insassen als Fleischplättchen von der Dicke einer Briefmarke. Bei Hubschraubern hatte man noch eine Überlebenschance
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